Ein Herz für Herbede

Ein Dorf mitten in Witten – so sehen viele Herbeder:innen ihren Stadtteil. Zwischen Ruhr, Kemnader See und Fachwerkhäusern kennt man sich – und freut sich über Neuankömmlinge, die frischen Wind reinbringen. Ein spannender Mix aus Traditionsunternehmen, Fernweh und Küstenfeeling.
Von Anna Kalweit (Text) und Sascha Kreklau (Fotos)

Sonnenschein

Wer die Distillerie Sonnenschein am Ufer der Ruhr betritt, kann sich schwer vorstellen, dass hier im Juli 2021 das Wasser kniehoch stand. „Nach dem Hochwasser mussten wir alles neu aufbauen“, erzählt Geschäftsführer Markus Schoebel – und das sind immerhin 1.500 Quadratmeter Fläche. Der gebürtige Frankfurter übernahm 2016 die Firma, deren Ursprünge im Jahr 1875 liegen. Vor acht Jahren suchte sein Vorgänger aus Altersgründen einen Nachfolger. Mit Schoebel fand er einen Mann vom Fach, der zuvor unter anderem bei einer Brauerei tätig war, zu der auch eine Spirituosenfirma gehörte.
Am frühen Morgen ist es in den Verkaufsräumen noch ruhig; hinter den Kulissen herrscht bereits Hochbetrieb. Denn in den Wochen vor Weihnachten verlassen pro Tag bis zu 1.000 Pakete das Lager von Sonnenschein. Nach wie vor sind Präsentkörbe bei Firmen ein beliebtes Kundengeschenk. Interne Sparkurse und Compliance-Regelungen schmälern aber mittlerweile die Bestellungen bei Händlern. „Damit haben wir gerechnet. Unser Vorteil: Wir sind in der Lage, ‚mal eben‘ 500 Pakete zusammenzustellen. Das können kleinere Weinhändler oft nicht“, so Schoebel. Zudem packt das Sonnenschein-Team individuelle Körbe und produziert auf Kundenwunsch mit der eigenen Distille Sonderabfüllungen.
Auch in der Küche klappern fleißig die Töpfe. Nach Corona hat sich besonders im Gastroangebot der Fachkräftemangel gezeigt. Trotz großer Nachfrage blieb die Küche längere Zeit kalt. Umso mehr freut sich Markus Schoebel, dass er nun zwei Mitarbeiterinnen für die Tagesgastronomie gefunden hat. Auf der Menükarte stehen ein abwechslungsreicher Mittagstisch, Kaffee und Kuchen sowie Kleinigkeiten zum Wein. Der Rebensaft und alle Arten von Spirituosen machen das Hauptgeschäft der Distillerie aus. Auch wenn in den gut sortierten Regalen Hochprozentiges aus aller Welt angeboten wird, ist ein regionales Produkt der Verkaufsschlager: 40.000 Flaschen des „Herbeder Tropfens“ wandern pro Jahr über die Ladentheke. Regionalität spielt für Sonnenschein allgemein eine große Rolle. „Wir wollen nicht nach Hamburg oder München verkaufen“, so Schoebel. Die Region habe mit zwei Millionen Menschen im direkten Umkreis sehr großes Potenzial. Nicht nur für sein eigenes Unternehmen: „Das Besondere am Ruhrgebiet ist die Nähe. Hier hast du an jeder Ecke ein tolles Angebot. Woanders fährst du ewig.“

Das Besondere am Ruhrgebiet ist die Nähe.
Für ein abwechslungsreiches Angebot in der Region sorgt der Geschäftsführer selbst. Neben Verkauf und Gastronomie finden regelmäßig Tasting-Veranstaltung im Geschäft statt. Die exklusiven Events mit rotem Teppich und ausgewählten Referent:innen für die Themen Bier, Wein, Gin & Co. sind schnell ausgebucht. Das Sonnenschein-Konzept: „Wir kümmern uns um alles, was mit Genuss zu tun hat.“
Und auch für die kommenden Monate hat Schoebel besondere Genussideen. So können sich Kund:innen in diesem Jahr vielleicht auf einen speziellen Obstschnaps von der Streuobstwiese hinter dem Firmengebäude freuen. „Ich könnte mir auch einen Weinberg an der Kemnader vorstellen“, lacht Schoebel. Aber was trinkt der Geschäftsführer eigentlich selbst am liebsten? „Nach einem leckeren Essen gibt es dunkle Schokolade, einen Espresso und einen kleinen Rum – dann ist der Abend rund.“

Edeka Familie Grütter

„Kriegste wieder nichts zu essen zu Hause?“, ruft Dominik Grütter einem Kunden an der Fleischtheke zu. Freundschaftlich, fast familiär ist der Ton im Edeka-Markt an der Wittener Straße. Das kommt nicht von ungefähr: Denn tatsächlich arbeiten auch Ehefrau Songül und Sohn Chris hier. Der 18-Jährige schloss vor kurzem im elterlichen Betrieb die Ausbildung zum Fachpraktiker im Verkauf ab. Nur bei der 14-jährigen Tochter steht noch nicht fest, ob sie in die Fußstapfen ihrer Eltern treten möchte. Dominik Grütter ist es wichtig, seinen knapp 70 Angestellten zu zeigen, dass er Teil des Teams ist. Das bedeutet, der Chef „muss auch an die Schüppe“. Ganze sieben Tage in der Woche. Dann muss Songül Grütter die Notbremse ziehen und eine Auszeit anordnen.
Seit 2016 betreibt Familie Grütter den Edeka-Markt in Witten-Herbede; zuvor war das Geschäft zwölf Jahre auf der anderen Straßenseite ansässig. Das Designkonzept am neuen Standort: dezent und familiär. „Wenn die Kunden reinkommen, sollen sie sich direkt wohlfühlen“, erklärt Dominik Grütter. So findet sich das Fachwerk aus dem Herbeder Stadtbild im Markt wieder. Hinter der Fleischtheke findet man echtes spezialbehandeltes Fachwerkholz an der Wand, das von einem alten Haus stammt. Heute unvorstellbar, aber damals sollte der Neubau durch ein Bürgerbegehren gestoppt werden. „Für mich nachvollziehbar, da die Angst bestand, dass die Einkaufsmeile in der Meesmannstraße benachteiligt wird“, so Dominik Grütter. Zum Glück waren diese Bedenken unbegründet.
Mein Herz schlägt eben für Herbede.
Heute hat der gelernte Metzger und Kaufmann mit einer anderen Herausforderungen zu kämpfen, die viele Unternehmer:innen nur zu gut kennen: der Fachkräftemangel. Anfang des Jahres geht Metzgerin Moni in den wohlverdienten Ruhestand – für sie gibt es noch keinen Nachfolger. Die gute Nachricht: 2023 konnte ein Azubi für die Metzgerei im Markt eingestellt werden. Auszubildende für seinen Markt findet Grütter oft über Mundpropaganda oder Empfehlungen von Mitarbeiter:innen. „Bei mir braucht keiner Abitur. Wenn man Lust hat und sich anstrengt, funktioniert es schon. Auf die Noten schaut später keiner, Hauptsache du hast den Brief in der Tasche.“ Tatkräftigen Nachwuchs wünscht er sich auch für die Werbegemeinschaft Herbede: „Ich bin dort seit 15 Jahre erster Vorsitzender. Es wird Zeit, dass die Jüngeren das Ruder übernehmen.“
Dann habe er auch mehr Zeit für den Markt. Hier engagiert er sich mit viel Fleiß, auch mit Leib und Seele. Denn es geht nicht nur um das Geschäft, sondern auch um die Menschen, die dort einkaufen. Für die Anliegen seiner Kund:innen hat Dominik Grütter immer ein offenes Ohr. Aktuell bereiteten die Inflation und gestiegene Lebensmittelpreise vor allem älteren Menschen große Sorgen. Deshalb unterstützt Grütter Seniorenglück e. V. Für den Verein können Kund:innen ihre Pfandbons direkt am Flaschenautomaten im Markt spenden. Gemeinsam mit dem SV Herbede veranstaltet Edeka Grütter außerdem eine Rentner-Tafel am Sportplatz, bei der gespendete Lebensmittel und Drogerieartikel an bedürftige Senior:innen verteilt werden. „Mein Herz schlägt eben für Herbede“, so der Geschäftsführer.

Jever Krog

Seit 43 Jahren sorgt der Jever Krog für friesisches Flair in Herbede. 2014 übernahmen Karsten Laux und sein Partner Patrick Thimm Küche und Tresen der gemütlichen Gaststätte. „Das hier ist mein Schätzchen. Ein eigenes Restaurant war immer mein Traum“, schwärmt Laux. Weil er sich im Jever Krog so wohlfühlt, hat er den Pachtvertrag vor Kurzem um fünf weitere Jahre verlängert. Obwohl die aktuellen Zeiten für viele Restaurants herausfordernd sind: Personalmangel, hohe Einkaufspreise und die Wiedererhöhung der Mehrwertsteuer beschäftigen auch den gelernten Koch. Zudem habe sich die Gästezahl noch nicht auf das Vor-Corona-Niveau eingependelt. „2019 war unser bisher bestes Jahr, und dann saß ich plötzlich allein da“, so Laux über die Pandemiezeit. Seit Corona gibt es auch zwei Ruhetage pro Woche, so klappe es personell besser. Aktuell unterstützen eine Vollzeitköchin und drei Aushilfen im Service das Team. Gesucht werden noch vor allem Spülhilfen und Aushilfen für den Mittagstisch. Eigentlich typische Studierendenjobs, doch bisher liefen viele Stellengesuche ins Leere. Die Arbeitszeiten am Wochenende und Abend seien vor allem für junge Menschen nicht attraktiv, vermutet Patrick Thimm.
Den Herausforderungen begegnet das Jever Krog-Duo mit Durchhaltevermögen und vielen guten Ideen. Lesungen, Comedy-Abende und Themenpartys locken neue Gäste an. Vor allem die Krimidinner sind immer wieder gut besucht. Die rund 100 Plätze im Innen- und 30 Plätze im Außenbereich sind natürlich auch für private Feiern wie Taufen, Hochzeiten oder Geburtstage buchbar. Aber auch der beste Freund des Menschen kommt im friesischen Restaurant auf seine Kosten. Hunde sind im Jever Krog nicht nur gern gesehen, sondern haben auch eine eigene Speisekarte. Die tiergerechten Gerichte wie „Bennys Lieblingsgulasch“, „Max’ Festmahl“ oder „Knabbermix à la Pia“ sind nach den Vierbeinern der Wirte benannt und werden in Jever-Krog-Näpfen serviert. Mit der Hundekarte haben es Laux und Thimm auch schon ins Fernsehen geschafft. Vor allem aber den tierischen Gästen scheint es zu schmecken: Bei der Gassirunde steuern viele Hunde zielstrebig das Restaurant an.
Das hier ist mein Schätzchen. Ein eigenes Restaurant war immer mein Traum
Leckeres gibt es natürlich auch auf der „Menschenkarte“. Die friesische Note hat Laux im Menü noch mehr herausgearbeitet – ein echtes Alleinstellungsmerkmal in Herbede: Zweimal in der Woche werden frische Scholle, Rotbarsch & Co. im Großmarkt eingekauft. Vor Gräten muss sich aber niemand fürchten, der Fisch landet als Filet auf dem Teller. Für Fischverächter:innen gibt es viele Alternativen im Angebot wie den Schnitzeltag.
Ob Stammgast, Stammtisch oder Erstbesucher:in, Laux und Thimm begrüßen jede:n gern im Jever Krog und pflegen zu vielen Gästen ein freundschaftliches Verhältnis. Einige kehren bereits seit mehr als 30 oder 40 Jahren ein. Seit einiger Zeit beobachten die Wirte, dass auch wieder Jüngere vermehrt zum Essen vorbeikommen. Aber gab es auch mal einen prominenten Gast? Und ob. Anlässlich einer Trauerfeier der Ruhr-Universität Bochum besuchte Joachim Sauer, der Mann von Ex-Kanzlerin Angela Merkel, den Jever Krog zu Kaffee und Kuchen.

fischer’s LAGERHAUS

Vom friesischen Flair des Jever Krogs sind es nur wenige Schritte zu einem anderen Kontinent. Unter einem Dach aus chinesischen Sonnenschirmen und zwischen Beduinenzelten holt fischer’s LAGERHAUS die Besucher:innen aus dem Alltag. „Bei uns sollen sich die Menschen wie im Urlaub fühlen und eine entspannte Atmosphäre genießen“, erklärt Tu Tue Tran, der seit Anfang 2023 Geschäftsführer am Standort Witten-Herbede ist. Das Einrichtungshaus an der Wittener Straße ist eine von deutschlandweit 21 Filialen, die sich auf Interieur aus Asien, Nordafrika und Mittelamerika spezialisiert hat. „So gesehen sind wir ein kleiner Fisch im großen Ozean. In unserer Nische sind wir allerdings ein ganz großer Fisch“, so Tu Tue Tran. Von der Gebetsmühle bis zum Wandregal wird das gesamte Sortiment in kleinen Manufakturen in den Herkunftsländern produziert, Zwischenhändler gibt es nicht.
Auf gut 1.600 Quadratmetern verteilt auf drei Etagen und einen Außenbereich „reisen“ die Kund:innen von Land zu Land: China, Indien, Marokko, Mexiko, Nepal oder Thailand sind in fischer‘s LAGERHAUS nur einen Katzensprung voneinander entfernt. Es gibt viel Neues zu entdecken – und doch fühlt man sich direkt wie zu Hause. Die Showrooms sind so arrangiert, dass man sich Sofas, Tische, Lampen & Co. auch gut in den eigenen vier Wänden vorstellen kann. Auch 2024 dürfen sich die Kund:innen auf Neues freuen. Geplant ist, die Verkaufsfläche durch einen Durchbruch und die Umnutzung des Lagers zu vergrößern. Und Platz wird immer gebraucht: Inspiriert von seinen vielen Reisen erweitert Unternehmensgründer Udo Fischer regelmäßig das Sortiment um neue Länder und ihre Produkte.
Bei uns sollen sich die Menschen wie im Urlaub fühlen und eine entspannte Atmosphäre genießen
Eine Verbindung zu den Herkunftsländern soll aber nicht nur über die Ware entstehen. „Wir wollen alle fünf Sinne ansprechen“, so Geschäftsführer Tran. Daher gehören Veranstaltungen mit authentischem Essen, Tanz und Gesprächen in Zusammenarbeit mit Vereinen aus der Region zum Angebot des Einrichtungshauses. Dabei haben Kund:innen Gelegenheit, aus erster Hand mehr über die Menschen und Kulturen der Länder zu erfahren, aus denen die Produkte stammen. „Durch diesen Austausch wollen wir unsere Kunden berühren und die Bindung zu uns stärken.“ Zuletzt habe eine Segnung durch thailändische Mönche eine Besucherin zu Freudentränen gerührt. Zwischen Buddhas, handgeschnitzten Kommoden und Sitzkissen findet auch Regionalität ihren Platz. In den Showrooms werden Werke von Künstler:innen aus den umliegenden Städten ausgestellt oder direkt in die Möbelausstellung eingebunden. So können sich Kund:innen zum Beispiel gleich das passende Bild zum neuen Wohnzimmerschrank kaufen.
Ist Personal auch bei fischer’s LAGERHAUS eine Herausforderung? Aktuell leitet Tu Tue Tran ein Team von einem Dutzend Angestellten. Neuestes Mitglied ist Azubi Elias, der eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann absolviert. Nach einem dreiwöchigen Schülerpraktikum bei fischer’s LAGERHAUS rief der 17-Jährige direkt montags im Geschäft an und fragte, ob auch eine Ausbildung möglich wäre. Ein schöneres Kompliment gibt es doch nicht.