Ein Ort gelebter Demokratie

Zahlreiche Innenstädte in Deutschland kämpfen mit denselben Herausforderungen: Leerstände mehren sich, Besuchsfrequenzen sinken, nach Ladenschluss wirken Fußgängerzonen verwaist. Die Folge: Innenstädte sind nicht mehr Mittelpunkt urbanen Lebens. Bochum steuert mit einem vielfach gelobten und mutigen Stadtentwicklungsprojekt gegen: Mit dem Haus des Wissens ist ein zentraler Ort in Planung, der die Bürger:innen wieder in die City locken soll – mit einem attraktiven Mix aus Wissensvermittlung und kulinarischem Angebot.
Von Sven Frohwein
Dr. Britta Freis sitzt in ihrem kleinen Ladenlokal am Bochumer Rathaus. „Die Fassade haben wir kurzerhand blau gestrichen, damit man uns besser sieht“, sagt die Projektleiterin des Haus des Wissens. Im Schaufenster der „Baubude“, wie sie das funktionelle Büro genannt haben, steht ein Modell aus Holz und Styropor. Und direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Platzes, das Original. Oder zumindest das Gebäude, das Ende 2026 in neuem Glanz erstrahlen und zum Innenstadtmagneten werden soll. 11.000 Quadratmeter Nutzfläche auf fünf Etagen, 4.500 Quadratmeter Open Space, 900 Quadratmeter Seminarräume, 2.000 Quadratmeter Markthalle, ein riesiger, terrassenartiger Dachgarten, der allen Bürger:innen offensteht – das sind die Superlative dieses Megaprojekts in der Bochumer City.
Noch wartet die altehrwürdige ehemalige Hauptpost aus dem Jahr 1928 darauf, aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst zu werden. Im Hof des lange leerstehenden u-förmigen Gebäudes rollen aber bereits die Bagger und reißen weg, was nicht mehr gebraucht wird. Zum Beispiel den alten Luftschutzkeller unter dem Gebäude, das einmal der Deutschen Telekom gehörte und nun im Besitz der Stadt Bochum ist.
„2019 entwickelte die Stadt das Leitbild für das Haus des Wissens“, sagt Britta Freis. Bochum war da schon auf der Suche nach einer neuen Bleibe für Volkshochschule und Bibliothek. Die Stadt entschied damals nach eingehender Untersuchung: Das Bildungs- und Verwaltungszentrum der Stadt, kurz BVZ, ist nicht sanierungsfähig. Der 80er-Jahre-Zweckbau, bislang Heimat von VHS und Stadtbücherei, wird abgerissen. 800.000 Nutzer:innen von VHS und Bücherei sollen eine neue Anlaufstelle bekommen.
Ein Treffpunkt lebenslangen Lernens, Erlebens und Erfahrens
Im August 2019 lobte die Stadt einen EU-weiten Architekturwettbewerb aus. Die Aufgabe: An zentraler Stelle in der Bochumer Innenstadt sollte ein attraktiver „Treffpunkt lebenslangen Lernens, Erlebens und Erfahrens“ entstehen. 15 Architekturbüros beteiligten sich am Wettbewerb. Und am Ende bekam CROSS Architecture aus Aachen den Zuschlag.
Wenn Britta Freis vom Entwurf des Architektenbüros erzählt, gerät sie ins Schwärmen: „Hier in Bochum entsteht ein dritter Ort – außerhalb von Wohnen und Arbeiten. Es soll ein Ort gelebter Demokratie sein.“ Und was Freis besonders wichtig ist: „Es ist kein Elitenprojekt, sondern eines für alle Menschen.“ Ein Projekt mit einer Strahlkraft, die weit über die Region hinausreiche. Mit dem mutigen Entwurf habe Bochum viel Aufmerksamkeit auf sich lenken können, ist sich die Projektkoordinatorin sicher.
Und Bochum konnte sogar schon zwei Preise abräumen: Erst kürzlich gab’s den Stadtentwicklungspreis „polis Award“ in der Kategorie „Reaktivierte Zentren“ für das Haus des Wissens. „Besonders stolz sind wir auch auf die Auszeichnung als ,Nationales Projekt Städtebau“, sagt Britta Freis. Doch Ruhm allein lässt aus einem alten Zweckbau noch keinen Ort mit großer Anziehungskraft entstehen. 152 Millionen Euro, so die letzte Kalkulation, wird die Transformation kosten. Ein Teil davon kommt aus Fördertöpfen: elf Millionen aus der Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG), acht Millionen aus Mitteln des Bundesbauministeriums, 9,5 Millionen Euro Digitalförderung. Den Rest stemmt die Stadt bislang in Eigenregie. „Wir werden uns um weitere Förderungen kümmern“, sagt Britta Freis.
„In der von uns geplanten Kombination gibt es das bislang nirgendwo.“
Ein nicht immer leichtes Unterfangen: „Machen Sie mal dem Fördergeber klar, wofür Sie sein Geld benötigen, wenn Sie das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht genau sagen können.“ Was Britta Freis damit meint? Das Haus des Wissens soll so gestaltet sein, dass es sich dem ständig wandelnden Mediennutzungsverhalten seiner Besucher:innen anpassen kann. Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: „Wir bauen ein unfertiges Haus.“
Verständlich, dass die Stadt dafür nur wenige Vorbilder gefunden hat. „In der von uns geplanten Kombination gibt es das bislang nirgendwo“, sagt Freis. Klar, es gebe moderne Büchereien, die das Miteinander und das gemeinsame Lernen in den Vordergrund stellten. Und es gebe attraktive Markthallen mit einem tollen Angebot. „Aber Bibliothek und Markthalle vereint? Fehlanzeige.“
Überhaupt die Markthalle: „Das wird keine Fressmeile“, sprudelt es aus Freis heraus. Hochwertige Produkte sollen im Vordergrund stehen – und ein kleiner Mittagstisch. Die Halle sei kein Ersatz für den klassischen Wochenmarkt. Deshalb habe man bereits erste Anfragen von Händler:innen ablehnen müssen. „Wir suchen einen Betreiber, der mit einem Gesamtkonzept an den Start geht“, so Freis. Und der soll sich dann auch um die Anwerbung einzelner Händler:innen kümmern.
Britta Freis zieht ein Gamepad hervor: „Am besten, Sie probieren einfach mal selber aus, was wir geplant haben.“ Auf dem Monitor erscheint ein 3D-Modell des Hauses des Wissens. Und mit dem Controller spazieren wir durch die Flure und Hallen des riesigen Gebäudes – ganz wie in einem Videospiel. Erst jetzt wird die Dimension des Projekts greifbar. „So geht es auch den meisten Besuchern, wenn sie bei uns vorbeischauen“, sagt Freis. Das Modell helfe, den Bürger:innen das ambitionierte Vorhaben besser zu erklären.
„Es nicht zu tun, ist keine Alternative!“
Überhaupt sei das Projektbüro am Rathaus eine sehr gute Idee gewesen: Nicht nur, weil viele Menschen mit vielen Fragen vorbeischauen würden – sondern vor allem, um die hohe Qualität des Projekts über die Jahre bis zur Fertigstellung zu gewährleisten, sagt Freis, die für die Stadt schon das Anneliese Brost Musikforum Ruhr an der Viktoriastraße begleitet hat.
Der nächste Meilenstein beim Megaprojekt Haus des Wissens steht noch in diesem Spätsommer an: die Einrichtung der Baustelle. Und dann gehen die Umbauarbeiten im Gebäude selber los. Jetzt sind die Nutzer:innen gefragt, sich Gedanken zu machen, wie sie Hand in Hand das Haus des Wissens mit Leben füllen wollen. Denn eines, sagt Britta Freis, solle in jedem Fall vermieden werden: dass bestimmte Räume bestimmten Institutionen gehören und nur selten genutzt werden.
Und ihr Projektbüro geht derweil weiteren Fragen nach: Wie gewährleisten wir die Sicherheit in diesem offenen Gebäude? Wie verhindern wir Vandalismus? Was passiert im Haus, wenn die Markthalle geschlossen ist? Wie erneuern wir permanent die digitale Infrastruktur? Und wie stemmen wir die logistische Herausforderung, mitten in der City zu bauen? Britta Freis‘ Augen leuchten, wenn sie davon berichtet: „Es nicht zu tun, ist keine Alternative!“
Mehr Infos zum Haus des Wissens gibt es auch auf:
www.bochum.de/hdw
www.cross-architecture.net/hdw-bochum
oder auf www.stadtgold-bochum.de