Digitales Politikgespräch
Warmlaufen im Wahlkampf
Weniger Ideologie, mehr Pragmatismus. Zumindest darin waren sich die Teilnehmer beim digitalen Politikgespräch zum Thema „Wirtschaftspolitik im Zeichen von Corona – Was braucht die Wirtschaft jetzt von ihrer Politik?“ einig. Sechs Monate vor der Wahl des neuen Berliner Senats hatte die IHK Berlin die Fraktionsvorsitzenden aus dem Abgeordnetenhaus zu einer Frühstücksrunde am 19. März 2021 ins Ludwig Erhard Haus eingeladen. Fast genau ein Jahr nach dem ersten Lockdown diskutierten Silke Gebel (Grüne), Anne Helm (Linke), Sebastian Czaja (FDP), Burkard Dregger (CDU), Georg Pazderski (AfD) und Jörg Stroedter (SPD), der Raed Saleh vertrat, wie die Krise überwunden und ein Re-Start der Berliner Wirtschaft gelingen könne.
© Christian Kruppa – IHK Berlin
© Christian Kruppa – IHK Berlin
© Christian Kruppa – IHK Berlin
© Christian Kruppa – IHK Berlin
© Christian Kruppa – IHK Berlin
© Christian Kruppa – IHK Berlin
© Christian Kruppa – IHK Berlin
© Christian Kruppa – IHK Berlin
© Christian Kruppa – IHK Berlin
© Christian Kruppa – IHK Berlin
© Christian Kruppa – IHK Berlin
© Christian Kruppa – IHK Berlin
Wirtschaft braucht Perspektiven
IHK-Präsidentin Dr. Beatrice Kramm begrüßte die Gäste mit einer Rede, in der sie deutlich machte, was die Berliner Unternehmen aktuell bewegt: „Zermürbt von monatelanger wirtschaftlicher Untätigkeit und nur zäh fließenden staatlichen Hilfen, wächst die Ungeduld.“ Was die Wirtschaft jetzt brauche, sind Perspektiven. „Deshalb sei es so wichtig, klug, vorausschauend und gleichzeitig pragmatisch Wege aus der Krise zu planen.“ Danach übernahm Jan Eder, Hauptgeschäftsführer der IHK Berlin, die Moderation. Er hieß die Fraktionsspitzen sowie die rund 150 Zuschauer an den Bildschirmen zum „Frühstücks-TV“ willkommen und erklärte die Spieregeln: Nach einem Einstiegsstatement zum Warm-up, gebe es zwei Themenblöcke mit jeweils einer Frage- und einer freien Runde, in denen jeder Politiker 60 Sekunden Zeit hätte, Stellung zu beziehen. Wer die Redezeit überschreite, müsse die nächste Runde aussetzen. Das Publikum könne zusätzlich Fragen im Chat stellen. Im Finale werde eine bewusst provokante Frage gestellt, bei der jeder beweisen könne, wie schlagfertig er sei.
Los ging’s mit der Einstiegsfrage nach den wirtschaftspolitischen Plänen, wenn die eigene Partei den neuen regierenden Bürgermeister stellen würde. Hier fanden die Fraktionsvorsitzenden überwiegend Konsens darin, dass die Maßnahmen der Bundesregierung während der Corona-Pandemie unbefriedigend für die Wirtschaft seien, da diese bei den Unternehmen nur teilweise oder nicht rechtzeitig ankämen. Jörg Stroedter hob hervor, dass Berlin es mit der „Neustarthilfe Berlin“ und dem Bürgschaftsprogramm zur Zwischenfinanzierung besser gemacht habe. Alle Parteien vereinte die Auffassung, dass Berlin dringend neue Maßnahmen brauche, damit sich die Wirtschaft nachhaltig erholen und deren Vielfalt gestärkt werden könne. Gelingen könne dies nur mit langfristigen Investitionen, vor allem in die Digitalisierung. Diesbezüglich verwies Burkard Dregger auf das E-Government-Gesetz, welches nun endlich umgesetzt werden müsse.
Öffnungmodelle im Fokus des Publikums
„Wie kann Berlin wieder zurück auf die Überholspur finden?“ Mit dieser Frage beschäftigte sich der erste Themenblock. Bezugnehmend auf die Corona-Krisenpolitik prognostizierte Georg Pazderski: „Ein weiterer Lockdown für Berlin wäre tödlich.“ Und Jörg Stroedter bekräftigte: „Wir brauchen jetzt dringend eine Öffnungsperspektive – auch in der Außengastronomie.“ Silke Gebel ergänzte, dass man ein flächendeckendes Virus-Screening brauche, damit die Inzidenzen runtergehen könnten. „Weil dies das einzige ist, was den betroffenen Branchen hilft, wieder aus dem Trümmerfeld rauszukommen.“ Mit Überleitung zur Wohnungspolitik diagnostizierte Anne Helm: „Wir müssen im Bestand dafür sorgen, dass die Mieten nicht weiter so immens steigen. Das werden wir alleine mit einem Neubau nicht erreichen.“ Sebastian Czaja forderte die Abschaffung von Doppelzuständigkeiten: „Wenn wir mit dem AZG (Allgemeines Zuständigkeitsgesetz) dafür sorgen, dass nicht mehr vier Verwaltungen dafür zuständig sind, ein Berliner Schulklo zu sanieren, dann beschleunigen wir vieles.“ Das Publikum bewegte unter anderem die Frage nach Öffnungsmodellen. Czaja ergriff erneut das Wort: Man müsse von dem „einen Inzidenzwert“ wegkommen. Durch die Verknüpfung von Impfstatus, Nachverfolgung und Teststrategie mit Hygienekonzepten könne es wieder zur schrittweisen Öffnung kommen – auch bei steigender Inzidenz. Nach einer Strategie zur Transformation der Berliner Wirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit gefragt, sprach Silke Gebel den Green New Deal – einen Pakt für Klimaschutz – an.
In der nachfolgenden freien Runde kam Schwung in den Schlagabtausch, als Burkard Dregger das Thema „Innovations- und Unternehmensfreundlichkeit“ wählte: "Wir haben eine beispiellose Zeit der unternehmerfeindlichen Politik von Rot-Rot-Grün erlebt.“ Das habe es in der Geschichte Deutschlands bisher nicht gegeben. Daraufhin kritisierte Jörg Stroedter: „Der Bundeswirtschaftsminister ist doch Sinnbild dieser Krise.“ Die CDU bringe keine konkreten Vorschläge, nur Ankündigungen. Silke Gebel hatte ebenfalls Gesprächsbedarf: „Die Gewerbemieten sind ein eklatantes Problem.“ Mit den Corona-Hilfen würden die übertriebenen Renditeerwartungen von Vermietern finanziert werden. „Das ist ein Skandal.“ Georg Pazderski monierte „In der Bildungspolitik wurde in den letzten 25 Jahren Erhebliches falsch gemacht. Uns fehlen etwa 100.000 Fachkräfte. Jeder zehnte Schüler hat keinen Abschluss. Wir unterrichten Orchideenfächer, anstatt MINT-Fächer auszubilden.“
Zurückhaltung bei der Koalitionsfrage
Beim zweiten Themenblock „Neue Wege im Superwahljahr 2021“ liefen sich die Fraktionsvorsitzenden warm. Auf den Mietendeckel und dem Volksbegehren zur Enteignung angesprochen, entgegnete Anne Helm, dass vor allem die bedrohliche Stimmungsmache zur Verunsicherung beitrage. Sebastian Czaja betonte, dass die FDP nach Errungenschaften wie dem Stufenplan und Taxigutscheinen, weiterhin mit konstruktiven Lösungsvorschlägen auffallen möchte. „Michael Müller hat in der Krise einen sehr guten Job gemacht hat.“, war Jörg Stroedter überzeugt und schob nach: „Die Berliner wollen eine Bürgermeisterin wie Franziska Giffey.“ Georg Pazderski sehe die AfD nach wie vor als „die Alternative in Berlin“ und möchte als Opposition weiterhin die Themen aufgreifen, wo es noch riesengroße Baustellen gibt. Burkard Dregger sagte ambitioniert: „Wir wollen, dass sich die Menschen unternehmerisch und wissenschaftlich frei entfalten können und das Berlin die liberale Metropole der Welt ist.“ Danach stellte Jan Eder die Koalitionsfrage. Georg Pazderski machte den Anfang: „Die AfD kann in Berlin mittelfristig Koalitionspartner werden und wir scheuen uns nicht vor der Verantwortung.“ Silke Gebel stellte fest, dass die Grünen in der aktuellen Koalition sehr viele Schnittmengen vorfinden und eine Kiwi-Koalition keine Perspektive biete. Burkard Dregger machte deutlich, dass die CDU in erster Linie den Berlinern dienen möchte: „Ich sehe überhaupt keine Veranlassung, jemanden hinterher zu laufen.“ Sebastian Czaja sehe eine große Chance, einen Regierungswechsel herbeizuführen: „Es sind andere Modelle zu Rot-Rot-Grün möglich.“ Anne Helm würde ein „richtig rotes Rathaus“ sehr gut gefallen. Eins würde jedoch nicht passieren: eine Regierungsbeteiligung mit der AfD, „denn Berlin war schon immer eine weltoffene und progressive Stadt.“ Abschließend verkündete Jörg Stroedter: „Ich bin ganz sicher, die SPD wird auf Platz eins sein.“ Auf die Frage aus dem Publikum, was genau unter der von Anne Helm zuvor genannten „Industrieholding“, welche die Linke gründen wolle, zu verstehen sei, erklärte sie: „Die Idee dahinter ist, eine Ansiedlung von Industrie im Großraum Berlin in den Bereichen Medizin, Verkehr und Energie zu unterstützen.“ Bei der freien Runde hatte Silke Gebel das letzte Wort: „Wir müssen es schaffen, dass sich alle Menschen in Berlin unabhängig von ihrem Migrationshintergrund in der Stadt wohl fühlen.“
Stroedters “Wahlhilfe” für die FDP
Mit der Schlussfrage versuchte Jan Eder seine Gäste aus der Reserve zu locken: Welche andere Partei würden die Abgeordneten einem Nicht-Wähler empfehlen? Während sich kein anderer zu einer parteifremden Wahlempfehlung durchringen konnte, traute sich einzig Jörg Stroedter und bot der FDP pfiffig Wahlhilfe an, da es Czaja schwer habe ohne Tegel über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen: „Vielleicht hilft’s.“ Diesen Mut honorierte Eder schmunzelnd mit den Worten „Auf solche Antworten hatte ich gehofft.“
Nach der zweistündigen Diskussion bedankte sich der IHK-Hauptgeschäftsführer für den „sehr wohltuenden, inhaltsstarken und disziplinierten Austausch“. Im bevorstehenden Wahlkampf würde dies sicherlich noch anders werden, aber man habe schon sehen können, wohin die parteipolitischen Linien laufen. „Es wird ein spannendes Wahljahr“.
von Melanie Schindler