Wirtschaftspolitische Diskussion

Bettina Jarasch: Spitzenkandidatin der Grünen zu Gast bei der IHK

Der Start des Wirtschaftspolitischen Frühstücks mit Bettina Jarasch illustrierte schon recht gut  eines der Problemfelder, das, sollte sie im Herbst Regierende Bürgermeisterin werden, auf sie wartet: Die Spitzenkandidatin der Grünen verspätete sich um ein akademisches Viertel, da der Berliner Verkehr sich wieder einmal als nicht nur politisch, sondern ganz alltäglich schwer zu durchdringende Materie erwiesen hatte.
Doch kaum hatte Jan Eder, Gastgeber und Hauptgeschäftsführer der IHK Berlin, die gebürtige Augsburgerin dem Publikum vorgestellt,  bewies Jarasch, dass Kleinigkeiten wie das Chaos der Berliner Rushhour sich nicht aus dem Konzept bringen: In einem inhaltlich dichten, empathisch vorgetragenen Vortrag zur Transformation Berlins zeichnete sie dem Publikum ihre Perspektive und Vision für Berlin auf dem Weg aus der Krise und hinein in neues Wachstum. Über allem prangte die Klammer des Klimawandels, der als Menetekel der Welt und Berlin die Richtung vorgebe. Die Grüne gab selbstbewusst zu verstehen, dass Klimapolitik in einem von ihr geführten Senat zugleich Wirtschaftspolitik sei. Doch sie appellierte eindringlich an die Unternehmerschaft, darin die größte denkbare Chance zu erkennen – Berlin sei, da wenig belastet von der überkommenen Industrie des 20. Jahrhunderts, prädestiniert, als sprichwörtlicher Pionier zur klimaneutralen Metropole voranzuschreiten. Darüber müsse sich viel verändern – das klassische Messegeschäft sah Jarasch unabhängig von Corona ebenso unter Transformationsdruck wie den Tourismus, den sie sich nachhaltiger und weniger massenorientiert wünscht. Digitalisierung müsse Chefinnensache, die Metropolregion gemeinsam mit Brandenburg entwickelt und die autofreie Innenstadt mit der besseren Anbindung des Stadtrandes verbunden werden. Jarasch führte durch zahlreiche Themenfelder, und viele der Zuschauer dürften dabei erstmalig überhaupt mit ihr in Berührung gekommen sein.
Die anschließende Diskussion mit Jan Eder und dem Publikum, dessen Fragen über einen Chat eingespielt wurden, entwickelte sich zur erwartenden Tour d’Horizon. Eingangs danach gefragt, wie sie die gegenwärtige Coronapolitik beurteile, lobte Jarasch einerseits das kooperative Handeln der Zivilgesellschaft, vermisste jedoch in der Politik die notwendige Entscheidungsfreudigkeit. Zu sehr sei man daran interessiert, sich bis ins letzte Detail abzusichern. Zudem appellierte sie, dass der Lockdown kein Ersatz für eine Test- und Impfstrategie sei. Auf die Frage, ob die Verwaltung digital für solch eine Krise gerüstet sei, meinte Jarasch, in solchen Krisen gelte es auch in der Verwaltung dazu zu ermuntern, ungewohnte Wege zu beschreiten. Im anschließende Diskussionsteil wandten sich die Diskutanten der Grünen Wirtschaftspolitik zu.
Auf Eders Frage hin, ob gegenwärtig Mut- und Ideenlosigkeit die Verkehrsplanung hemmten, stelle Jarasch ihre Pläne, die Stadtrandlagen besser anzubinden in den Raum. Dies müsse Priorität haben. U-Bahnbau schloss sie zu diesem Zweck nicht aus, ließ aber durchblicken, dass sie die damit verbunden Kosten kritisch sieht. Auch der A-100 bescheinigt Jarasch nicht unbedingt ein Liebesverhältnis. Das Projekt sei aus der Zeit gefallen und womöglich wären teilweiser Rückbau oder Umwandlung der Fläche die bessere Option. Vielleicht lasse sich eine Spur als Radspur nutzen. Mehr als von Autobahnen verspricht sie sich vom Ausbau des ÖPNVs entlang des Siedlungssterns, den sie in enger Abstimmung mit Brandenburg weiter entwickeln möchte, auch um weiterer Zersiedlung vorzubeugen. Mit Brandenburg kann sich Jarasch darüber hinaus eine weit engere Zusammenarbeit vorstellen als bisher. Vor allem die Wirtschaftsförderung und das Marketing des Metropolraumes sähe sie gern durch gemeinsame Einrichtungen umgesetzt. Mehr noch interessierten sich die Gäste dafür, wie sie das Zuständigkeitsswirrwarr innerhalb der Berliner Verwaltung zu bändigen gedenkt.
Jarasch gab sich ebenso diplomatisch wie überzeugt, dass eine klare Trennung zwischen Senats- und Bezirksverantwortlichkeiten vorzunehmen ist, wobei sie den Bezirken erheblichen operationellen Raum zugestehen möchte. Immer wieder betonte sie, wie wichtig ihr das Gespräch mit allen Akteuren sei, auch in Hinblick auf die Digitalisierung der Verwaltung. Keinen Zweifel ließ sie daran, dass sie dieses Thema ins Rote Rathaus ziehen wird. Wie genau man sich eine Digitaloffensive unter einer Regierenden Jarasch vorstellen muss, ließ sie aber offen. Abschließend und die anderen Themen überragend kam die Diskussion auf die Wohnungspolitik. Jarasch wandte sich gegen den Eindruck, sie befürworte vorbehaltlos die Enteignung großer Immobilienunternehmen, allerdings betonte sie auch, dass sie hinsichtlich Ziel und Analyse mit dem Enteignungs-Volksbegehren weitgehend übereinstimme. Sie lehne allerdings die quantitative Grenze von 3.000 Wohnungen ab. Wie allerdings die von ihr präferierten sozialen, gemeinwohlorientierten, qualitativen Voraussetzungen beschaffen sein sollten, anhand derer über Enteignung zu befinden sei, blieb im Gespräch offen. Einigkeit herrschte darin, dass der Berliner Immobilienmarkt nicht mit einem Instrument, sondern mit einem umfangreichen Instrumentenkasten entwickelt werden muss. Über dessen Inhalte allerdings wird noch viel zu reden sein.
von Christian Nestler