Digitale Diskussionsrunde in der IHK Berlin

„Richtungswahl 2021: Wer steuert Berlin durch die 2020er Jahre?“

Am 26. September wird nicht nur der Bundestag, sondern auch das Berliner Abgeordnetenhaus (AGH) neu gewählt. Wohin steuert Berlin also ab 2021 – und vor allem wer? Darum ging es in der heutigen (8.9.2021) Diskussionsrunde mit den Spitzenkandidatinnen und -kandidaten der Parteien für das Bürgermeisteramt in der IHK Berlin. Schwerpunkte der digital wie auch live durchgeführten Veranstaltung bildeten die Topthemen Berlins: Stadtentwicklung/Wohnungsbau, Klimaschutz/Verkehrswende sowie - aus Zeitgründen nur kurz gestreift - Digitalisierung/Verwaltungsmodernisierung.

Ein hochkarätiges Podium live in der IHK

Dr. Beatrice Kramm, Präsidentin der IHK Berlin und Markus Voigt, Präsident des VBKI e.V., begrüßten die politischen Gäste und die 65 Besucher live in der IHK sowie die 450 an den Bildschirmen dazu geschalteten Unternehmer. Die Diskussion mit den Podiumsgästen (in alphabetische Reihenfolge) Bettina Jarasch von Bündnis 90 / Die Grünen, Franziska Giffey von der SPD, Kai Wegner von der CDU, Dr. Klaus Lederer von Die Linke, Dr. Kristin Brinker von der AfD, und Sebastian Czaja von der FDP, moderierten Claudia Große-Leege, Geschäftsführerin VBKI e.V. und Jan Eder, Hauptgeschäftsführer IHK Berlin.

Worte sagen mehr als Plakate

Um es vorwegzunehmen: Das Format war „schnell“ und unterhaltsam, in angenehmer Form informativ – und die Zeit war wie so oft – zu knapp, um wirklich alles auf den Tisch zu bringen. Was am Ende überzeugte: Die Politiker stehen in den Themen drin und haben sich auf ihren Wahlkampf besser vorbereitet, als die Plakate in der Stadt annehmen lassen. Zur Eröffnung umrissen die beiden Präsidenten Kramm und Voigt kurz das wirtschaftliche Umfeld zurzeit – und betonten den gemeinsamen Vorsatz: „Politik und Wirtschaft müssen gemeinsam gestalten“. Eder und Große-Leege erklärten das Format – mit den Themenblöcken, Chatfragen und dem „Timekeeping“: „Jede Antwort in nur 60 Sekunden“. Über allem stand die Frage: Welchen Beitrag kann die Politik dabei leisten, der Berliner Wirtschaft den Weg zu weiterem Wachstum zu ebnen?

Wer sind die Berliner Spitzenkandidaten?

Jan Eder und Claudia Große-Leege stellten jeder drei der Kandidaten kurz vor und verbanden das immer mit einer „persönlichen Frage“:
Franziska Giffey hat 16 Jahre in Neukölln gewirkt, am Ende als Bezirksbürgermeisterin, war dann von 2018 bis 2021 Bundesfamilienministerin - eine steile Partei-Karriere. Sie ist studierte Englisch- und Französischlehrerin sowie Verwaltungswirtin. Ihr „wirtschaftsorientierter Kurs“ kommt bei der IHK und dem VBLI gut an. „Was verbinden Sie mit Europa?“ lautete die persönliche Frage. Darauf Giffey: „Das Programm fand beim Parteitag 90-prozentige Zustimmung. Und den Standort Berlin zu gestalten hat eine internationale Dimension: da spielt Europa eine große Rolle.“
Bettina Jarasch ist seit 2009 im Berliner Landesvorstand der Partei Bündnis 90 / Die Grünen und studierte Philosophin und Politikwissenschaftlerin sowie ausgebildete Redakteurin. Knapp ein Drittel der befragten Bürger kannte sie anfangs noch nicht. Daher die Frage an sie: „Was sind die drei wichtigsten Eigenschaften von Ihnen?“ Jarasch meinte dazu: „Meine Partei hat sich gewünscht, dass ich die Spitzenkandidatin werde, weil ich einen Plan habe und steuern kann. Nach-haltigkeit kann ein Markenzeichen werden.“
Dr. Klaus Lederer war schon bei der letzten AGH-Wahl 2016 der Spitzenkandidat der Linken und ist promovierter Volljurist, RA und Politikwissenschaftler. Bei Umfragen sind Menschen mit ihm zufrieden, die nicht die Partei wählen würden. „Wer ist ihr Vorbild?“ Darauf Lederer: „Das war Lothar Bisky, weil er gute Vorschläge hatte und einen intelligenten Witz besaß.“
Sebastian Czaja ist seit 2020 stv. FDP-Landesvorsitzender und Spitzenkandidat – außerdem ist er ausgebildeter Elektromechaniker, Bauprojektentwickler und Gründer des Vereins Liberale Immobilien-runde. „Welche drei Pop-Songs würden Sie charakterisieren?“ hieß die persönliche Frage. „Ich liebe „Mambo“ von Herbert Grönemeyer, „Über den Wolken“ von Reinhard Mey und „Atemlos“ von Helene Fischer,“ so lautete die Antwort.
Kai Wegner ist Spandauer und Berliner, seit 2019 Landesvorsitzender der CDU Berlin und Mitglied im CDU-Bundesvorstand, seit er 17 Jahre alt ist schon CDU-Mitglied, und nun Spitzenkandidat. Er ist ausgebildeter Versicherungskaufmann und war zehn Jahre als Berater tätig. „Wofür sollten wir Sie kennen, was haben Sie für Hobbys?“ Dazu sagte Wegner: „Ich habe drei tolle Kinder und einen Hund, mache gerne Sport, z.B. Tennis. - Aber am liebsten mache ich tatsächlich Politik.“
Dr. Kristin Brinker ist Spitzenkandidatin der Berliner AfD sowie ausgebildete Bankkauffrau sowie studierte und promovierte Architektin, Immobilienmanagerin und Projektentwicklerin. „Was sagt das alles über Sie?“ hieß hier die Frage. Darauf Brinker: „Ich kenne unsere Landesliste, unsere Mitglieder sind nicht alle so weit rechts, wie es immer heißt. Ich finde die Partei-Position zur Steuerpolitik gut.

Clusterpolitik Berlin-Brandenburg: Wie geht’s weiter?

In der großen Fragerunde ging es dann zunächst um die Clusterpolitik: Die „länderübergreifenden“ Cluster in Berlin und Brandenburg beinhalten „Wohnungspolitik, Gewerbemieten, Stadtentwicklung“; „Digitalisierung, Verwaltung“; „Nachhaltigkeit, Energiewende, Verkehr“. Die Frage an alle Kandidaten auf dem Podium lautete: „Wie würden Sie die Weichen stellen?“
Jarasch findet die Cluster gut und meint, Berlin sei „gut aufgestellt“ damit. Aber Kultur sei der besondere „Antrieb“ für Gäste nach Berlin zu kommen. Daher treibe die Kultur auch den Tourismus und die Gastronomie mit an. Nach Ansicht von Wegner ist Berlin „verhältnismäßig gut“ durch die Pandemie gekommen. Er sieht die Stärken von Berlin – auch in der künftigen Clusterpolitik – im Bereich Gesundheitswirtschaft und in der Mobilität. Brinker sieht das Thema „Fachkräfte“ kritisch, solange junge Leute sich nicht richtig bewerben könnten und unpünktlich seien. Sie meint, dass wir keine fertigen Fachkräfte nach Berlin holen, sondern nur versuchen könnten, sie weiter und besser auszubilden. Lederer vermerkt Fortschritte bei der Verwaltungs-Digitalisierung, aber sieht auch noch „Luft nach oben“. Die Digitalagentur Berlin sei ein guter Anfang, aber da müssten „wir noch mutiger“ werden. Czaja bedauert zwar noch immer die Tegel-Entscheidung von damals, steht aber jetzt zu der getroffenen Vereinbarung. Nun müsse man sich bei der künftigen Urban Tech Republic fokussieren. Berlin könne dort auch ein Schaufenster für moderne Mobilität werden. Giffey sieht in der Berliner Start-up-Szene ein großes Potenzial, wo fortschrittliche Produkte entstehen und damit auch gute neue Arbeitsplätze.

Wohnungsbau und Gewerbeimmobilien im Blick

Danach stand Berlins „Aufreger-Thema Nr. 1“ im Mittelpunkt: Wohnungs-bau, Gewerbeimmobilien und Stadtentwicklung. Der Trend sagt, die Berliner ziehen nach Brandenburg, weil hier in der Stadt nicht genug für den Wohnungsbau getan wird. Seit 2010 wandern jährlich immer mehr Menschen nach Brandenburg ab als zuziehen. Wie kann der Abwanderung aus Berlin begegnet werden? Dieser Frage von Eder und Große-Leege stellten sich nach und nach alle Politiker auf dem Podium:
Jarasch plädierte unbedingt für den von ihr vorgeschlagen „Mietenschutzschirm“, den sie für ein gutes Angebot für die Berliner hält – sagte aber auch deutlich „wir brauchen unbedingt Wohnungsneubau“. Viele Bürger hätten als Mieter ihr Vertrauen verloren. Wegner merkte dazu an, dass der Wohnungsmarkt immer angespannter sei, weil eben nicht genug neu gebaut werde. Bauen müsse partnerschaftlich vorangebracht werden, nur dann entspanne sich auch der Mietwohnungmarkt. Lederer hatte ein Augenmerk auf die kleinen Gewerbemieter wie Buchläden u.a. – für die die Mieten oft zu hoch würden. Auch bringe es wenig, wenn Quartiere ohne ÖPNV-Anbindung geplant würden, denn die Menschen sollen doch eine gute öffentliche Verkehrsanbindung haben. Er sieht kein Problem darin, noch mehr Wohnungen mit WBS zu bauen. (WBS heißt Wohnberechtigungsschein).
Giffey mahnte das „Enteignen“ kein guter Weg sei, denn dann würden Investoren wegbleiben. Es koste vielmehr Geld, dass man anderweitig besser für Wohnungsneubau investieren könnte. Sie sprach sich auch für eine „Randbebauung“ am Tempelhofer Feld aus. Czaja brachte die Zahl von 200.000 benötigten neuen Wohnungen in die Debatte. Berliner habe nur ca. 15 Prozent Wohnungseigentum, das sei wenig. Das Eigentum hier zu fördern, wäre besser. Lederer ergänzte, dass die Berliner Einkommen nicht mehr mit dem hohen Mieten-Niveau mithalten könnten. Brinker brachte ihre Erfahrung ein, dass die meisten der Vermieter „eher kleiner“ seien und ein gutes Verhältnis zu ihren Mietern hätten. Man sollte eher in die Zukunft 20 bis 30 Jahre voraus planen, denken und bauen - und Geld vor allem in den dann benötigten Neubau stecken.

Publikumsfragen kurzgefasst

Im Chat und live gingen einige wenige Fragen zu den „viel zu lange dauernden Genehmigungsverfahren“ ein, auch nach einer Überarbei-tung des „Vergabegesetzes“ wurde gefragt, das viel schlanker werden müsste sowie eine Frage nach Auflösung von Doppelzuständigkeiten in der Verwaltung. Hier gaben die anwesenden Politiker kurze Antworten, denn die Zeit dränge bereits. Das war auch der Grund, warum der Block zur Digitalisierung eine „Herausforderung“ zur Kurzformulierung wurde. Jarasch, Wegner und Giffey stellten sich dieser und nutzen jeweils 60 Sekunden, um in wenigen Sätzen zu sagen, wie digitale Verwaltungsmodernisierung gehen kann.

Klimaschutz und Verkehrswende bleiben kontrovers

Mehr Zeit gab es dann für den Themenblock „Klimaschutz, Verkehrswende, Energie und Verkehr“, in dem es u.a. um Autofahrer-Parteien, CO2-Einsparungen, Ausbau der Mobilitätsangebote und den U-Bahn-Ausbau ging. Wegner und Czaja wollten beide keine Fahrverbote in der Innenstadt haben und sprachen sich auch für den ÖPNV-Ausbau aus. Jeder sollte sein Auto nutzen „dürfen“, wenn er es braucht. Und die Bewohner außerhalb des S-Bahn-Rings sollten auch nach 22 Uhr ein Angebot im ÖPNV haben. Einigkeit herrschte bei diesen beiden Politikern auch bei der Einschätzung des Wirtschaftsverkehrs: Er sei wichtig, würde immer gebraucht und Lastenfahrräder könnten diesen Bedarf nicht ausreichend abfedern. Giffey und Jarasch sahen Probleme bei der „Regulierung des fließenden Verkehrs durch Finanzen“ (Stichwort City-Maut) und bei der „Umorganisation“ des Wirtschaftsverkehrs zu Gunsten des Klimaschutzes. Eder fasste zusammen: „Die Differenzen sind deutlich zu erkennen“.

Ein Kartenspiel macht Hoffnung

Ein besonderes „Kartenspiel“ zum Abschluss brachte sowohl Spaß wie auch weitere Einsichten: Alle Kandidatinnen und Kandidaten erhielten eine Zustimmungs- und eine Ablehnungskarte. Sie sollten sich zu zwölf Positionen der IHK bzw. des VBKI äußern und ihre Zustimmung oder Ablehnung bekunden. Jede Position begann mit:
„Als Regierende/r Bürgermeister/in werde ich…“
  • den Berlinerinnen und Berlinern versprechen, dass es keinen erneuten Corona-Lockdown für Geimpfte und Genesene mehr geben wird
  • mich über den Bundesrat für eine Reform der Unternehmensbesteuerung in Deutschland einsetzen, um die Unternehmen steuerlich zu entlasten
  • gemeinsam mit Brandenburg ein Metropolraummanagement für die Region Berlin-Brandenburg einrichten
  • die Verlängerung der U-Bahnlinie U7 bis zum BER voranbringen
  • die Verwaltung durch eine grundlegende Reform des Verhältnisses zwischen Senat und Bezirken modernisieren
  • den Wohnungsmarkt durch eine Randbebauung des Tempelhofer Feldes beleben
  • die rechtlichen Grundlagen dafür schaffen, dass große Immobilienkonzerne enteignet werden können
  • die Tangentialverbindung Ost als wichtige Verkehrsachse im Berliner Osten endlich bauen
  • Gewerbemieten durch einen Gewerbemietendeckel regulieren
  • Digitalpolitik zur Chefsache mit einem Chief Digital Officer in der Senatskanzlei machen
  • Verwaltungsservices durch ein digitales Bürgeramt optimieren
  • Zuständigkeiten in der beruflichen Bildung in einer Senatsverwaltung bündeln und ein Institut für berufliche Bildung schaffen
Die Überraschung am Ende: Es gab unerwartet viele Übereinstimmungen und Eder zog Bilanz: „Das lässt einige Hoffnung für die Koalitionsgespräche zu“. Jedem Podiumsgast wurde noch ein kurzes Schluss-Statement zugestanden, wo noch einige schöne klare Aussagen zusammenkamen, aber auch ein paar ausweichende Worte erkennbar waren. Dann ging es raus in den strahlend blauen Spätsommertag.