Politische Positionen

Wege aus dem Corona-Lockdown: Vier Bausteine zur Revitalisierung der Berliner Wirtschaft


Von robustem Wachstum und internationaler Anziehungskraft zu geschlossenen Unternehmen, die um ihr Überleben kämpfen – Berlins Wirtschaft ist innerhalb weniger Wochen brutal abgestürzt. Was als erforderliche Konsequenz aus dem gesundheitspolitischen Notwendigem begonnen hat, muss jetzt in eine klare Strategie zur Rettung der Unternehmen überführt werden. Präsidentin, Präsidium und Hauptgeschäftsführung der IHK Berlin haben daher in einem Strategiepapier mögliche Wege aus der Krise skizziert und mit konkreten Vorschlägen unterlegt.

Die Vier Bausteine zur neuen Normalität

Baustein I – Ausgleich schaffen

Der öffentlich akzeptierte und verbindliche Ausgleich sozialer, wirtschaftlicher und gesundheitlicher Interessen ist notwendige Arbeitsgrundlage für die Betriebe. Öffnungskonzepte und gleichzeitige Hygienemaßnahmen gehen Hand in Hand, müssen aber individuell angepasst werden. Grundsätzlich brauchen alle Branchen und Wirtschaftszweige klar kommunizierte Öffnungstermine, Meilensteinkonzepte und damit verbundene Bedingungen. Sie brauchen Perspektive.
Vorschläge aus der Wirtschaft:
  • Prüfung von branchenspezifischen Schutzkonzepten statt Betriebsschließungen: Der Senat prüft mithilfe von Kammern, Verbänden und Wirtschaftsvertretungen Schutzkonzepte, mit denen der Weiterbetrieb aller Unternehmen diskriminierungsfrei möglich ist. Die Konzepte fußen auf allgemeingültigen Kriterien zum Schutz vor Infektionen wie beispielsweise die Personendichte pro qm Verkaufsfläche oder eine Vorgabe der maximalen Kontaktintensität zwischen Mitarbeitern und Kunden.
  • Schutz von öffentlich Räumen: Verstärkt werden Verkehrsknotenpunkte, öffentliche Räume im Nahverkehrsbereich und für die Allgemeinheit zugängliche Bereiche gereinigt und desinfiziert, sodass der Schutz der Kunden und der Arbeitnehmer gewährleistet ist. Zudem werden die Taktungen im ÖPNV hochgehalten, damit die Personendichte in den Fahrzeugen möglichst gering ist.
  • Ausbau der Testkapazitäten und Tests zur Immunitätsbestimmung: Systematische Schnelltests für die Belegschaften, insbesondere in Betrieben mit Publikumsverkehr, können den Weiterbetrieb der Wirtschaft gewährleisten. Die Einführung serologischer Tests zur Abschätzung der erworbenen Immunität in der Bevölkerung sind ebenfalls durch die Politik anzustreben.
  • Dezidierte Pläne und Kriterien für Planungssicherheit: Die Politik erstellt Pandemiepläne und legt Schwellenwerte in Bezug auf kritische (Neu-)Infektionszahlen oder Reproduktionsraten fest. Entscheidungen darüber, ob oder wann strengere Maßnahmen wieder eingeführt werden sollten, werden auf der Grundlage dieser Pläne und expliziter Kriterien getroffen. Dies erhöht zugleich die Akzeptanz der getroffenen Maßnahmen in der Bevölkerung.
  • Zuschusssystem für Unternehmen: Zur Sicherung des Unternehmensbestands ist ein Zuschusssystem erforderlich, das die Unternehmer aus ihrer Rolle als Bittsteller entlässt und sie nach klar definierten Kriterien zu Anspruchsberechtigten macht. Ist aus Sicht der Politik die Schließung von Betrieben oder ganzen Branchen geboten oder sind die Auflagen für eine Wiedereröffnung unverhältnismäßig hoch, entstehen für Unternehmen automatisch finanzielle Ausgleichsmechanismen. Kredite helfen hier nur bedingt, da nicht in allen Branchen Nachholeffekte möglich sind.
  • Ausbildungsplätze in der Krise absichern: Der Berliner Senat muss ein Förderprogramm nach dem Vorbild Sachsens und Thüringens für die Berliner Ausbildungsbetriebe auflegen, die von Kurzarbeit und Schließung betroffen sind. Diese Ausbildungsbetriebe erhalten so Zuschüsse zur Ausbildungsvergütung für den Zeitraum, in dem noch kein Anspruch auf Kurzarbeitergeld besteht.
  • Wettbewerbsverzerrungen durch Insellösungen vermeiden: Sowohl der grenzüberschreitende Waren- und Dienstleistungsverkehr als auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit sind aktuell massiv beeinträchtig, sodass Liefer- und Warenketten gestört sind. Die Berliner Wirtschaft braucht hier eine abgestimmte Politik mit anderen Bundesländern und der EU, um Wettbewerbsnachteile für den Standort zu vermeiden und die Planungssicherheit zu erhöhen. Berlin und Brandenburg sollten hier gemeinschaftlich mit gutem Beispiel vorangehen, indem der Berliner Senat und die Brandenburger Landesregierung vereinbaren, ihren Parlamenten mehr gemeinsame Beschlüsse für Lockerungen oder Beschränkungen vorzulegen.

Baustein II – Flexibilität ermöglichen

Mehr unternehmerische Freiheit ist der Schlüssel zur Anpassungsfähigkeit in der Krise. Die notwendigen Einschränkungen von Freiheiten auf der einen Seite sollten durch mehr Spielräume für das Finden von Lösungen auf der anderen Seite kompensiert werden. Zumindest zeitlich befristet müssen dafür Öffnungszeiten, rigide Vergabekriterien und Verwaltungsverfahren gelockert werden.
Vorschläge aus der Wirtschaft:
  • Flexible Betreuungszeiten bei Schulen und Kitas: Eine funktionierende Kinderbetreuung über die „systemrelevanten“ Berufe hinaus sichert die Arbeitsfähigkeit der Berliner Wirtschaft und der Verwaltung und muss daher dringend wieder zur Verfügung gestellt werden. Betreuungszeiten in Schichtsystemen mit Stunden- oder Tagesregelungen sind hierbei denkbar. Zudem müssen auch Eltern die Möglichkeit haben, sich in strittigen Fällen der Notbetreuung an die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie zu wenden.
  • Zeitweise Lockerungen bei Genehmigungsverfahren: Um die Wirtschaft zu entlasten und neue Vertriebskanäle bürokratiefrei zu ermöglichen, sollte die Politik Genehmigungsverfahren überprüfen beispielsweise im Bereich der mobilen Verkaufsstände, um diese zeitweise zu lockern. Die Kammern, Branchenverbände und Wirtschaftsvereinigungen unterstützen die Verwaltung in diesem Prozess.
  • Kundenströme durch Sonderverordnungen besser steuern: Mit der zeitweisen Flexibilisierung der Öffnungszeiten und die damit einhergehende Ermöglichung von Terminvereinbarung mit Kunden (beispielsweise über ein digitales Ticketsystem) oder Sonntagsöffnungen können Unternehmen Kundenströme besser entzerren. Zudem geben sie die Möglichkeit, entgangene Umsätze zumindest teilweise zu kompensieren und mehr Wertschöpfung zu generieren.
  • Arbeitsfähigkeit der Verwaltung sichern: Die geplante Änderung der Berliner Landesbauordnung, mit dem Ziel der Verlängerung von Genehmigungsfristen ist aktuell das falsche Signal. Die Bezirksämter sind unterschiedlich ausgestattet, die Arbeitsmethoden aktuell sehr uneinheitlich. Die Weiterführung der Planungsverfahren und die Bereitstellung von Genehmigungen für Bauvorhaben kann in ein paar Monaten ein wichtiger Schritt aus der Wirtschaftskrise sein, deswegen darf es hier zu keinen Verzögerungen kommen. Vor Verlängerung von Genehmigungsfristen müssen andere Möglichkeiten der Aufrechterhaltung der Verwaltungstätigkeit geprüft werden. Beispielsweise wäre ein Schichtsystem und eine entsprechende Ausweitung der Öffnungszeiten eine Möglichkeit, Infektionsschutz und Servicelevel zusammenzubringen.
  • Liquidität in den Unternehmen halten: Damit die Unternehmen bei Wiederaufnahme ihrer Tätigkeiten handlungsfähig sind, brauchen sie Liquidität. Hierzu muss die öffentliche Hand sich bei Steuernachzahlungen, Sozialversicherungsbeiträgen und Rückzahlungen von Überbrückungskrediten flexibel verhalten. Gegebenenfalls ist ein Forderungsverzicht bei Fortführung der Geschäftstätigkeit zu prüfen ebenso wie die vom IAB vorgeschlagene temporäre Erlassung von Beiträgen zur Sozialversicherung bei Neueinstellungen.
  • Kurzarbeitergeld schneller und unbürokratischer erstatten: Die Arbeitsagenturen sind aktuell völlig überlastet, sodass es zum Verzug von Auszahlungen kommt, wodurch einige Unternehmen von Insolvenz bedroht sind. Hinzu kommt, dass viele Unternehmen scheinbar mit der Abrechnung überfordert sind, die Grundlage für die Erstattung ist. Um eine schnelle Abwicklung zu gewährleisten ist zu prüfen, ob der Prozess der Abrechnung im Sinne der Unternehmen entbürokratisiert und verschlankt werden kann. Außerdem ist der Empfängerkreis beispielsweise um Auszubildende und Minijobber auszuweiten.
  • Flexible Einstiege für Berufsschuljahre: Um Auszubildenden in den Betrieben zu halten und für sie alternative Einsatz- und Auffangmöglichkeiten zu gewährleisten, ist zu prüfen, ob ein zeitlich flexiblerer Einstieg in das beginnende Berufsschuljahr möglich ist.

Baustein III – Kreativität fördern

Mehr Flexibilität für die Unternehmen schafft zugleich Raum für kreative unternehmerische Antworten auf die Krise. Insbesondere die stark betroffenen Branchen Tourismus, Gastgewerbe, Messen und die Veranstaltungswirtschaft entwickeln Gutscheinmodelle, die öffentliche Unterstützung, Förderung und einen rechtlichen Rahmen brauchen.
Vorschläge aus der Wirtschaft:
  • Automatisierte Sondernutzungserlaubnis für Imbisse und Popup-Gastronomie: Zur Wahrung des Abstandsgebots werden freie Flächen zeitweise und gebührenfrei der Gastronomie zur Verfügung gestellt. Damit erhalten auch Restaurantbetriebe ohne eigen Außenfläche die Chance, ihre Gäste im Freien zu bewirten. Hierzu sollten die Regelungen zur Sondernutzung öffentlichen Straßenlandes auf Zeit gelockert werden. In manchen Fällen könnten auch bisherige PkwParkstände temporär genutzt werden. So wird unter Einhaltung der verkehrsbedingten Sicherheitsabstände und Gehbahnbreiten in vielen Straßen zusätzliche Fläche nutzbar. 
  • Anreizmechanismen beim Ticketkauf setzen: Der Senat setzt Stimulierungsinstrumente wie beispielsweise Erlebnisgutscheine ein, um bei Konsumenten Anreize zu schaffen, kulturelle und touristische Angebote in Anspruch zu nehmen.
  • Weiche Öffnung für den Tourismus: 60 Prozent der Berliner Gäste kommen aus dem Inland. Vertreter der Tourismusbranche könnten gemeinsam mit der Verwaltung Konzepte und Ideen für einen sicheren und kontrollierten Tourismusstrom erarbeiten, der sich nach der bundesweiten Infektionsrate richtet. Reisenden, unabhängig ihres Reisegrunds, ist dabei die Übernachtungsmöglichkeit unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregelungen sofort zu gewähren.
  • Gleichstellung der Beförderungsmittel: Während Stadtrundfahrten und Ausflugfahrten verboten sind, darf der ÖPNV genutzt werden, solange ein Mundschutz getragen wird. In Berlin sollten die liniengebundenen Fahrgastschiffe umgehend zum ÖPNV eingestuft werden (so wie bereits in Potsdam). Da sie offene Decks haben, ausreichend Platz für die Abstandsregelung bereitstellen und auf Gastronomie verzichten würden, liegt hierin kein zusätzliches Infektionsrisiko. Auch dem allgemeinen Busverkehr und den Stadtrundfahrten sollte unter diesen Umständen die Öffnung ermöglicht werden.
  • Safer Work statt Shutdown: Statt eines Shutdowns bekommen die Unternehmen durch die Politik eine Hygiene-Checkliste an die Hand, an denen sie sich zur Offenhaltung ihrer Geschäfte orientieren können. Der Senat kann hier Best Practice Beispiele aufführen und so die Unternehmen zu kreativen Lösungen im Umgang mit Abstands- und Hygieneregeln animieren wie beispielsweise dem Einsatz einer „Benachrichtungsgklingel“ bei der Essensausgabe statt eines Kellners.
  • Unternehmen setzen eigene Regeln: Von ihrem Hausrecht Gebrauch machend setzen die Betriebe eigene kreative Ideen um, um ihre Umsätze zu steigern. So könnten Gastronomen beispielsweise die Verweilzeit an ihren Tischen begrenzen, um die Umlaufgeschwindigkeit in ihren Restaurants zu erhöhen.

Baustein IV – Innovationen anstoßen

Ohne die Digitalisierung würde die aktuelle Krise noch viel schärfer ausfallen. Der rasche Umstieg auf digitale Lösungen in den Berliner Unternehmen muss nun auch im öffentlichen Sektor nachvollzogen werden. Die öffentliche Verwaltung und das Schulsystem müssen jetzt den digitalen Schritt machen, um Arbeitgeber und Arbeitnehmer von ihrer aktuellen Doppelbelastung zu befreien.
Vorschläge aus der Wirtschaft:
  • Finanzielle Förderung für Digitalprojekte: Öffentliche Wettbewerbe und finanzielle Anreize helfen, (open source basierte) Entwicklungen, Standards und Schnittstellen zu entwickeln und regionalspezifische Anforderungen zu integrieren. Ideen, die z.B. im aktuellen CityLab Projekt „HackTheCrises“ entstehen, sollten schnell finanzielle Unterstützung finden. Berlin muss seine Kreativität ausspielen, um seinem Ruf als Social-Tech-Hauptstadt gerecht zu werden. 
  • Städtische Experimentierräume und offene Verwaltungsdaten: In Experimentierräumen sollten Ideen für neue digitale Angebote weiterentwickelt werden. Für die bei der App-Entwicklung notwendigen (offenen) städtischen Daten braucht es eine Ansprechstelle, die Meldungen entgegennimmt und ein zukünftiges Open Data Angebot für Berlin prüft.
  • Digitalisierte Verwaltung muss jetzt Realität werden: Neben Genehmigungsprozessen und Planungen ist jetzt durch die Verwaltung zu prüfen, welche Digitalisierungsschritte bei den Geschäftsbeziehungen mit Unternehmen möglich sind. Schnell helfen können dabei etwa Videosprechstunden und der gezielte Einsatz des ePersonalausweises. Die Verwaltung sollte die technischen Herausforderungen genauso aktiv angehen wie die Wirtschaft.
  • Unterstützung bei der Digitalisierung der Betriebe: Viele Betriebe stehen nun vor der Hausforderung, ihre Beratungs- und Abstimmungsprozesse zu digitalisieren. Hier können staatliche Unterstützungsleistungen helfen, die finanziellen Lasten auszugleichen.
  • Innovationen durch öffentliche Nachfrage ankurbeln: Die aktive Nachfrage der öffentlichen Hand nach innovativen Lösungen für die Modernisierung von Prozessen fördert die Leistungsfähigkeit der mittelständischen Wirtschaft. Um eine aktive Rolle einzunehmen, muss das Know-how der Vergabeverantwortlichen in der Verwaltung hinsichtlich aktueller Technologieentwicklungen gezielt aufgebaut und zum Einsatz gebracht werden.
  • Lernstoff und Bildung digital gestalten: Überbelegte Klassen und ein hoher Altersdurchschnitt bei den Lehrkräften – bei diesen Voraussetzungen ist mittelfristig nicht an einer Rückkehr zum normalen Berliner Bildungsalltag zu denken. Für funktionierende digitale Bildung bedarf es aber Mindeststandards bei der technischen Ausstattung, beim Know-how zur digitalen Wissensvermittlung, bei dem zu vermittelnden Lehrplan und der persönlichen Kommunikation zu Schüler, Eltern und Ausbildungsbetrieben. Für letztere sind digitale Lehr- und Lernangebote der Berufsschule die hilfreichste Unterstützungsmaßnahme in Bezug auf die berufliche Ausbildung.
In der Coronakrise befindet sich Berlin aktuell in einer Übergangsphase. Maßnahmen, die heute ergriffen werden, schlagen eine erste Brücke für das Fortbestehen der wirtschaftlichen Tätigkeit in den kommenden Jahren. Augenmaß und Vertrauen in die unternehmerische Freiheit und in die Grundsätze des ehrbaren Kaufmannes sind daher heute mehr denn je von Politik und Wirtschaft geboten. Ziele wie der (weitere) nachhaltige Ausbau der Infrastruktur zur Erreichung der Klimaschutzziele werden dabei die langfristigen Schritte flankieren. Wenn Berlin seine Erfolge aus den vergangenen Jahren nicht verspielen möchte, dann müssen Politik und Wirtschaft einmal mehr beweisen, dass sie einen gemeinsamen Weg gehen können und das auch wollen.