Außenwirtschaft im Fokus - Ausgabe 01/2022

Umbrüche in der Weltwirtschaft – Status Quo und Perspektiven in Berlin

Berlins Unternehmen sehen sich einer Mehrfachbelastung im internationalen Geschäft gegenüber. Seit Beginn der Pandemie sind internationale Lieferketten und Lieferengpässe an der Tagesordnung. Mit dem Ukraine-Krieg trifft zusätzlich ein Schock die Exportmärkte der Berliner Wirtschaft, deren Geschäfte mit Russland und benachbarten Märkten nun flächendeckend abgeschnitten sind.
140 Berliner Unternehmen haben sich im Februar an der jährlichen IHK-Unternehmensumfrage Going International beteiligt. Um zusätzlich ein Lagebild über die ökonomische Betroffenheit des Ukraine-Kriegs auf die Berliner Wirtschaft zu ermitteln, hat die IHK Berlin im März eine Blitzumfrage zu den Auswirkungen des Ukraine-Kriegs durchgeführt, an der sich 240 Berliner Unternehmen beteiligten. Die geopolitischen Unsicherheiten und die Umbrüche auf den internationalen Märkten werden noch lange Bestand haben, sodass schon jetzt wichtige internationale Themenstellungen, etwa Diversifizierung von Lieferketten- und Geschäftsbeziehungen, Wirtschaftsverflechtung mit China und Stärkung des EU-Binnenmarktes von Politik und Wirtschaft strategisch in den Blick genommen werden müssen.

Konjunktur überwiegt schlechte Geschäftslage

Konjunktur noch am besten in Nordamerika und Europa, Geschäfte in Asien und Russland fallen ab, insgesamt überwiegt schlechte Geschäftslage: Aktuell machen 32% der in Nordamerika (35% USA) und 27% der in Europa aktiven Unternehmen dort jeweils gute Geschäfte. 20% der in Asien tätigen Unternehmen (China 16%) sehen sich dort gut im Geschäft, wohingegen nur 6% der Unternehmen mit Russland-Engagement ihr Geschäft dort als gut beurteilen. Über fast alle Auslandsmärkte hinweg überwiegt die von den Befragten als schlecht bewertete Geschäftslage, am stärksten in Russland (47%) und Asien (43%, China 41%). Nur für Nordamerika und die USA überwiegt die als gut bewertete Geschäftssituation.
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Russland-Perspektiven am stärksten eingetrübt

Eine bessere Geschäftsentwicklung wird vor allem in Nordamerika (24%, USA 27%) und abgeschwächt für Europa (21%) von den dort aktiven Befragten erwartet. Für beide Regionen halten sich die Besser- und Schlechter-Erwartungen in etwa die Waage. 19% der Befragten mit Asien-Geschäft (China 16%) erwarten dort bessere Perspektiven, jedoch wird diese Einschätzung von schlechteren Geschäftserwartungen überlagert, besonders für China. Für ihr Geschäft mit Russland erwarten nur 3% der dort engagierten Unternehmen verbesserte Aussichten, während 38% von schlechteren Geschäften ausgehen. In keiner Region wird die Geschäftsperspektive derzeit negativer beurteilt. 

Corona-Folgen treffen Berliner Wirtschaft 

Internationale Unternehmen sind weiterhin auf breiter Front von Corona-Auswirkungen betroffen: Im weiteren Verlauf der globalen Corona-Pandemie nennen die meisten Befragten Probleme in der Lieferkette/Logistik (54%), Reise-Einschränkungen (53%) und Absagen von Messen/Veranstaltungen (47%) als größte Corona-Hindernisse für ihr internationales Geschäft. Der ausbleibende internationale Personenkontakt, die Sorge vor Insolvenz internationaler Kunden sowie der hohe Ölpreis werden von den Unternehmen als spezifische Corona-Hindernisse herausgehoben.
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Auslandsgeschäft mit Hemmnissen - vor allem in Europa 

Jenseits der Corona-spezifischen Hindernisse haben 47% der Befragten eine allgemeine Zunahme von Hemmnissen bei ihren internationalen Geschäften wahrgenommen. Dabei nennen 58% der Unternehmen verstärkte Sicherheitsanforderungen als größtes Hemmnis für ihr internationales Geschäft. 35% der Unternehmen sehen sich durch eine intransparente Gesetzgebung beeinträchtigt. Und 26% der Unternehmen haben mit lokalen Zertifizierungsanforderungen in ihren Auslandmärkten zu kämpfen. Die Unternehmen wiesen darüber hinaus auch auf signifikant gestiegene Frachtkosten und Schwierigkeiten im internationalen Seeverkehr hin. 36% der von den Firmen genannten Geschäftshemmnisse entfielen auf die EU- und EFTA-Staaten, 14% auf das Vereinigte Königreich. 
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Lieferengpässe mit Folgen

Angesichts anhaltender Engpässe im internationalen Warenverkehr gaben 46% der befragten Unternehmen an, Preissteigerungen an ihre Kunden weiterzugegeben. Jeweils 38% der Unternehmen haben sich für eine Erhöhung der Lagerhaltung/weniger „just-in-time“ entschieden oder sich neue Lieferanten gesucht. 

UK-Geschäft nach dem Brexit deutlich schlechter 

Die UK-Geschäfte sind deutlich schlechter im Europa-Vergleich, die Wirtschaftsperspektiven pessimistischer: Die befragten Unternehmen beurteilen ihr Geschäft mit dem Vereinigten Königreich (UK) aktuell als wesentlich schlechter im gesamteuropäischen Vergleich. Nur 8% der UK-aktiven Unternehmen schätzen ihre dortige Geschäftslage als gut ein, während 60% die Lage als schlecht beurteilen. Auch für die mittelfristige Geschäftsentwicklung mit dem Vereinigten Königreich beurteilen im Europavergleich erheblich mehr Unternehmen (37%) die Perspektiven negativ. Allerdings ist der Anteil der Unternehmer mit UK-Engagement und positiven Geschäftserwartungen mit 19% nahezu gleich hoch wie im europäischen Durchschnitt. Insgesamt ist die Lücke zwischen UK-Pessimisten und -Optimisten deutlich größer als bei Geschäften mit dem europäischen Festland.

UK-Geschäft weiter belastet, kaum Investitionsverlagerungen

Durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem EU-Binnenmarkt und aus der Zollunion sehen 48% der UK-aktiven Unternehmen ihr Geschäft weiterhin durch die erhöhte Zollbürokratie beeinträchtigt. In diesem Zusammenhang werden auch erhöhte Ausfuhrkosten genannt. 42% der Unternehmen sehen die stärksten Auswirkungen in neuen Logistikproblemen. Hier werden lange Lieferzeiten von Materialien aus Irland (EU) durch UK nach Europa genannt. Und 37% der Unternehmen sehen sich geschäftlichen Unsicherheiten gegenüber, wozu nach Angabe der Unternehmen auch ein umständliches Umsatzsteuerregime mit dem Vereinigten Königreich sowie die neuen Einreisebestimmungen zählen. 80% der Befragten haben nach dem britischen EU-Austritt keine Verlagerung von Investitionen vorgenommen bzw. planen dies auch nicht.  

Herausforderungen bei Lieferketten 

Das neue Lieferkettengesetz ist noch wenig in der Berliner Wirtschaft thematisiert, Herausforderungen werden aber erwartet: 76% der befragten Unternehmen wurden bislang noch nicht von Banken, Auftraggebern/Kunden oder Lieferanten bezüglich menschenrechts- und umweltbezogener Risiken im Sinne des Lieferkettengesetzes in ihrer Lieferkette kontaktiert. Ein Drittel der Unternehmen sieht jedoch Herausforderungen bei der Umsetzung des Lieferkettengesetzes: 98% dieser Unternehmen erwarten bürokratischen Aufwand, 81% befürchten zusätzliche Kosten und 60% der Unternehmen sehen Haftungsrisiken/Rechtsunsicherheit voraus. 

Risikominimierung der Unternehmen vielfältig 

Die befragten Unternehmen ergreifen eine Vielzahl von Maßnahmen, um menschenrechts- und umweltbezogenen Risiken zu begegnen: 32% der Befragten nehmen eine Risikoanalyse vor, 31% steigen in die kooperative Zusammenarbeit zu diesen Themen ein und 30% entwickeln einen Verhaltenskodex für ihr Unternehmen. 61% der Befragten geben an bei ihren Unternehmensmaßnahmen nicht auf externe Hilfe angewiesen zu sein. 20% der Befragten gaben an, sie würden Hilfe bei der Überprüfung ihrer Lieferketten in Anspruch nehmen. 

Ukraine: drei von vier Unternehmen betroffen

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine verstärkt den schon zu Jahresbeginn deutlichen konjunkturellen Gegenwind erheblich. Knapp 20 Prozent der Berliner Unternehmen sind direkt von Sanktionen betroffen. 54 Prozent leiden unter steigenden Rohstoffpreisen oder Problemen bei Lieferketten. 28 Prozent der Betriebe sehen zwar aktuell keinen Einfluss des Krieges auf ihr Geschäft, rechnen damit jedoch in naher Zukunft. Mehr als die Hälfte der aktuell befragten Unternehmen sieht keine andere Möglichkeit die Steigerungen der Einkaufspreise zu bewältigen, als diese an die Kunden weiterzugeben. Das ist das Ergebnis einer Umfrage, welche die IHK Berlin Mitte März durchführte.
Insgesamt jedes fünfte Berliner Unternehmen muss seine Geschäfte wegen der zunehmenden Handelshemmnisse einschränken oder wird dies demnächst tun. Belastend sind vor allem die steigenden Kosten für Energie und Rohstoffe. Laut der aktuell vorliegenden Umfrage kommt ein Drittel der Unternehmen überhaupt nicht mehr an benötigte Rohstoffe oder erwartet dies in den kommenden Wochen. Jedes zweite Unternehmen ist von gestörten Lieferketten betroffen, denn für die Metall- und Elektroindustrie wichtige Rohstoffe werden aus Russland oder der Ukraine importiert. Schwer getroffen sind die Hersteller von Computer-Chips, die nach der Lieferkrise des letzten Jahres Kunden erneut mit langen Lieferfristen konfrontieren – was erhebliche, konjunkturbremsende Auswirkungen auf nahezu alle anderen Sektoren hat. Die Wahrscheinlichkeit einer Rezession steigt: Die deutsche Wirtschaft schrumpfte bereits im IV. Quartal des Vorjahres, und auch in diesem Quartal dürfte die Leistung gesunken sein. Institute rechnen inzwischen mit einer BIP-Minderung auch im II. Quartal.
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Schub für die Inflation

Ebenfalls ein Drittel fürchtet den Verlust von Geschäftspartnern oder erlebt diesen bereits. Besonders hart ist hier die Industrie getroffen, wo 43 Prozent der Betriebe Geschäftspartner verlieren oder dies in nächster Zukunft fürchten; bei den Dienstleistungsunternehmen ist jedes dritte Unternehmen davon betroffen, etwa bei IT-Dienstleistungen (Outsourcing).
Rund jedes zweite betroffene Unternehmen kann die gestiegenen Kosten nicht anders als durch Preissteigerungen seinerseits kompensieren. Die bereits hohe Inflation wird damit erneut einen Schub erhalten. In der Mobilitätsbranche plant demnach ein Viertel der Unternehmen Preiserhöhungen oder setzt diese bereits um, in der Industrie sind es 72 Prozent der Betriebe. Mittlerweile wird auf Jahressicht mit einer Inflation in Höhe von fünf bis sieben Prozent gerechnet. Jedes vierte Unternehmen hält derzeit Investitionen zurück, jedes fünfte denkt über Personalanpassungen nach, ebenso viele werden ihre Lagerhaltung erhöhen. 17 Prozent der Unternehmen machen sich auf die Suche nach neuen Lieferanten. Immerhin 15 Prozent wollen verstärkt auf erneuerbare Energien setzen, um weniger abhängig von Gas und Öl zu werden.

Außenwirtschaftsförderung strategisch schärfen 

Das Land Berlin hat im Jahr 2017 das Konzept für Internationale Wirtschaftskooperation (KIW) als strategische Richtschnur für die Internationalisierung der Berliner Wirtschaft etabliert. Außenwirtschaftsfördermaßnahmen wurden dabei auf die wichtigsten Berliner Zielmärkte konzentriert und strategische Handlungsfelder (Digitalisierung, cluster-/branchenübergreifende Kooperationen, Start-ups, internationale Zusammenarbeit Wirtschaft-Wissenschaft) definiert, die bei internationalen Aktivitäten besondere Berücksichtigung finden sollten.
Nach vierjährigem Bestehen sollte das Internationalisierungskonzept einer grundlegenden Neubewertung unterzogen werden: Insbesondere muss eruiert werden, warum nur ein Bruchteil der aktuell 13 festgelegten Zielmärkte - insbesondere nämlich die TOP4-Zielmärkte China, Polen, Frankreich und USA - durch die Außenwirtschaftsakteure in Berlin aktiv bearbeitet werden. Auch der entsprechende Förderansatz, vor allem bestehende außenwirtschaftliche Strukturen und Aktivitäten in den stärksten Zielmärkten zu fördern, statt stärker den Fokus auf noch weniger erschlossene aber aussichtsreiche Märkte zu legen, bedarf einer Neujustierung im Sinne ausbalancierterer Ländermaßnahmen.

China-Geschäft nachhaltig absichern

Die Berliner Wirtschaft hat in den letzten Jahren in hohem Maße vom Aufstieg Chinas zu einer Wirtschaftsmacht profitiert. China ist heute der wichtigste Handelspartner der Hauptstadt und ihr zweitwichtigster Exportmarkt. Um das dynamische China-Geschäft der Berliner Wirtschaft zukunftssicher zu machen, ist eine China-Strategie des Senats notwendig, die für eine wirtschaftsorientierte Themen- und Branchenfokussierung und eine Verstetigung von Förderaktivitäten sorgt sowie insgesamt eine effektive Koordination der China-Akteure in Berlin schafft.
Dabei müssen vor allem mit Blick auf die Veränderungen in Chinas Politik, Gesellschaft und Wirtschaft rahmengebende politische Handlungsstrategien mit und für Berlins Wirtschaft entwickelt werden: Chinas rasante Entwicklung hin zu mehr Wohlstand, High-Tech und Digitalisierung fegt erfolgreiche Geschäftsmodelle der letzten Jahre in hohem Tempo hinweg. Megacities erfahren die Grenzen des Wachstums, neue Regionen werden zu Wachstumshotspots. Nicht zuletzt wird Chinas Wirtschaft für Berliner Unternehmen in immer mehr Branchen zu einer starken Konkurrenz und der Zugang zum dortigen Markt verengt sich an vielen Stellen. Gleichzeitig können Chinas Fortschritte Beschleuniger für Berliner Innovationen und Technologien sein.

EU-Binnenmarkt stärken und Zusammenarbeit mit den EU-Institutionen vertiefen 

Der EU-Binnenmarkt ist das Herzstück Europas und damit eine wirtschaftspolitische Daueraufgabe. Der Binnenmarkt erschließt europäischen Unternehmen einen Heimatmarkt von fast 450 Mio. Menschen. Als Abnehmer von mehr als der Hälfte aller Berliner Exporte fungiert dieser als weitaus wichtigster Absatzmarkt der Berliner Wirtschaft. Darüber hinaus ist die EU neben den USA und China der dritte große Akteur im internationalen Handel und kann als Handelsmacht entsprechend effektiv vorteilhafte Handelsabkommen für ihre Unternehmen abschließen.

Die EU-Institutionen sind für die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes und die gemeinsame Handelspolitik verantwortlich. Daher ist es unabdingbar, dass der Berliner Senat für eine stärkere Interessenvertretung der Berliner Wirtschaft bei den regionalpolitischen Strukturen in Brüssel sorgt.  Hierfür stehen in erster Linie das Büro des Landes Berlin bei der EU im Geschäftsbereich der Senatsverwaltung für Kultur und Europa sowie der durch das Land Berlin benannte Vertreter im EU-Ausschuss der Regionen im Fokus: Branchen- und themenspezifische Interessen der grenzüberschreitend tätigen Berliner Unternehmen (u.a. Beseitigung von Friktionen im Binnenmarkt, um Lieferketten weiter zu diversifizieren) sollten einerseits mit Unterstützung dieser Berliner Vertreter aktiv in die EU-Entscheidungsprozesse eingebracht und dort nachhaltig vertreten werden. Andererseits sollte durch eine stärkere Rückkoppelung dieser Akteure mit relevanten Berliner Stakeholdern, wie u.a. den Wirtschaftsverbänden, frühzeitig auf Chancen, Potentiale und Gefahren für die Berliner Wirtschaft hingewiesen werden, um entsprechende Maßnahmen zum Vorteil der Unternehmen zu ergreifen.