BW 02/2022 - SCHWERPUNKT | INTERVIEW

„Noch fehlt ein durchgängiger Neubau-Wille“

Für Gesobau-Chef Jörg Franzen ist der Wohnungsbau die wichtigste Aufgabe für die wachsende Stadt Berlin. Vor allem wünscht er sich schnellere Genehmigungsverfahren
Flächen für neue Wohnungen sind nach Ansicht von Jörg Franzen, Vorstandsvorsitzender des landeseigenen Wohnungsbauunternehmens Gesobau AG, noch genügend vorhanden. Er hofft, dass in der neuen Legislaturperiode die Planungen beschleunigt werden.
Berliner Wirtschaft: Berlin ist vor Corona stark gewachsen. Fehlende Wohnungen, verstopfte Straßen und mangelnde Gewerbeflächen sind die Folge. Wo ist für Sie der größte Handlungsbedarf?
Jörg Franzen: Nach unserer Wahrnehmung besteht der größte Handlungsbedarf im Wohnungsbau, weil wir fast keinen Leerstand mehr in der Stadt haben. Bei der Gesobau liegt die Leerstandsquote schon seit einigen Jahren deutlich unter einem Prozent. Das ist weit weniger als die zwei bis drei Prozent, die wir bei den städtischen Wohnungsbauunternehmen als normal betrachten. Die Mieter-Fluktuation, die in gewöhnlichen Zeiten bei zehn bis zwölf Prozent liegt, beträgt jetzt in Berlin zwischen vier und fünf Prozent. Das Wohnungsangebot ist einfach nicht ausreichend.
Wie ist das Problem lösbar?
Wir müssen große Gebiete für den Wohnungsneubau entwickeln. Nachverdichtungen und Dachaufstockungen allein reichen nicht aus. Wenn wir neue Quartiere bauen, müssen aber natürlich auch Verkehrsinfrastrukturen, Bildungsangebote und Gewerbeflächen mitentwickelt werden. Die Aufgaben, die für Berlin in der Verkehrsplanung vor uns liegen, sehe ich aber in erster Linie als einen Umbruch an, der mit der ökologischen Wende einhergeht.
Fehlen die Flächen für die großen Neubaugebiete?
Nein, es gibt sie. Im Stadtentwicklungsplan Wohnen, den die Senatsverwaltung vor einigen Jahren erstellt hat, sind Flächen für ungefähr 200.000 Wohnungen ausgewiesen. Potenziale hat Berlin also, und zwar deutlich mehr als andere Großstädte. Aber man muss die Flächen auch entwickeln wollen. Noch fehlt ein durchgängiger Neubau-Wille. Sowohl in der Politik als auch in der Verwaltung muss der implementiert werden. Das gilt auch für die Bezirke, die in Berlin sehr autark arbeiten. Derzeit warten wir noch viel zu lange, bis wir Baurecht bekommen.
Wie kann dieser Wille hergestellt werden?
Ich bin recht zuversichtlich, dass wir vorankommen werden. Die Regierende Bürgermeisterin hat den Wohnungsbau zu einem prioritären Thema erklärt. Für mich ist Hamburg ein gutes Beispiel. Olaf Scholz hatte als Bürgermeister den Wohnungsbau zur Chefsache erklärt und Bündnisse mit allen Beteiligten abgeschlossen, sodass der Neubau beschleunigt werden konnte. Mittlerweile sind Baufertigstellung und Bevölkerungszuwachs recht ausgeglichen. Der Markt funktioniert wieder. Dahin muss Berlin auch kommen.
An welchen Stellen genau wünschen Sie sich Beschleunigungen?
Ein Beispiel wären Typen-Baugenehmigungen. Die sechs städtischen Wohnungsbauunternehmen haben gemeinsam verschiedene Wohnhaustypen entwickelt, um günstiger und schneller bauen zu können. Aber wir können sie aktuell nicht nutzen. Denn Typenbau ist ja nur sinnvoll, wenn nicht jedes einzelne Projekt neu beantragt werden muss, sondern eine Typen-Baugenehmigung vorliegt und darauf basierend nur noch ein sehr vereinfachter Prozess durchlaufen werden muss. Außerdem wünschen wir uns auch in Berlin die Genehmigungsfiktion.
Was ist das?
Danach gilt zum Beispiel ein Bauantrag als genehmigt, wenn er nicht innerhalb einer bestimmten Frist beantwortet wird. Das setzt die genehmigenden Behörden unter Zeitdruck. Das brauchen wir, um schneller zu werden. Denn alles, was die Abläufe verlangsamt, kostet Geld. Ich wünsche mir auch eine digitalere Verwaltung. Außerdem brauchen wir einfachere Standards. Die Berliner Bauordnung, aber auch die Bundesbauordnung sind sehr kompliziert. Wir müssen uns die Frage stellen, ob die hundertprozentige Barrierefreiheit im Neubau wirklich erforderlich ist. So viel Bedarf dafür haben wir gar nicht.
Gibt es neben den langwierigen Genehmigungsverfahren weitere Engpässe, die den Neubau hemmen?
Grundsätzlich sind die sechs kommunalen Wohnungsbauunternehmen nach wie vor sehr solide aufgestellt. Wir haben daher die finanzielle Kraft, in den Wohnungsbau zu investieren, solange die Schere zwischen Kosten und Mieteinnahmen nicht weiter aufgeht.
Gibt es auch genug Kapazitäten bei  Bauunternehmen?
Wir bekommen nach wir vor zwar wenige, aber verwertbare Angebote von Bauunternehmen für unsere Bauprojekte. Deshalb halte ich auch nichts davon, eigene Planungs- oder Bauunternehmen aufzubauen, so wie es in einigen Diskussionen angeregt wurde.
Warum wollen Sie keine eigenen Planungs- oder Bauunternehmen gründen?
Der Aufbau solcher Organisationen würde viel zu lange dauern. Wir würden die Mitarbeiter dafür gar nicht in ausreichender Zahl finden und zudem die Berliner Wirtschaft schwächen. Mehr als 80 Prozent unserer Bauaufträge werden von Berliner Unternehmen übernommen. Die Architekturbüros, die für uns die Planung übernehmen, kommen ebenfalls überwiegend aus Berlin. Die Kapazitäten in der Baubranche sind derzeit nicht der Engpass. Wir brauchen  insbesondere aber schnellere Genehmigungsprozesse.
Aber Bauunternehmen müssen heute höhere Preise verlangen, auch weil die Baumaterialen teurer werden. Müssen Sie deshalb die Mieten erhöhen?
Die Baupreise sind in der Tat massiv gestiegen. Holz und Stahl und fast alle anderen Rohstoffe und Vorprodukte werden deutlich teurer. Unsere Möglichkeiten, die Mieteinnahmen zu steigern, sind auf der anderen Seite minimal. Es ist unsere Aufgabe, die Mieten sozialverträglich zu halten. Aber auch wir müssen mal erhöhen. In Abstimmung mit der Politik verschicken die sechs landeseigenen Wohnungsbauunternehmen gerade Mieterhöhungen für rund 200.000 Wohnungen.
Was bedeutet das für die Mieter?
Je nach Wohnungsart wurden Anstiege von ein bis zweieinhalb Prozent vereinbart. Das entspricht dem sogenannten Mietendimmer. Pro Monat und Wohnung steigen die Durchschnittsmieten dadurch um 4,81 Euro. Das ist sehr moderat. Bei der Gesobau beträgt die Durchschnittsmiete pro Quadratmeter nur 6,26 Euro. Das ist im Vergleich zu anderen Wettbewerbern sehr sozialverträglich. So werden wir auch weitermachen. Die Balance der Einnahmen und Ausgaben muss aber dauerhaft sichergestellt werden. Im Moment geht es noch. Wir müssen aber zeitnah mit dem Senat Gespräche führen, wie wir perspektivisch mit der Situation umgehen können.
Wann könnte es für die Berliner denn zu einer ­Entspannung auf dem Wohnungsmarkt kommen?
Im Koalitionsvertrag sind 100.000 neue Wohnungen als Ziel für diese Legislaturperiode festgelegt. Ich glaube, das ist zu schaffen, wenn wir – wie nun beabsichtigt – ein breites Bündnis für mehr Neubau mit der Regierenden Bürgermeisterin, dem Stadtentwicklungssenator, den Bezirken, den Verbänden und allen Unternehmen, die bauen können und bauen wollen, auf den Weg bringen. Dann bin ich sehr zuversichtlich, dass sich in fünf Jahren der Markt und damit die Mietenentwicklung wieder etwas entspannt haben werden.
Wie viele Wohnungen werden die städtischen Gesellschaften davon bauen?
Die städtischen Wohnungsbauunternehmen sollen in den kommenden fünf Jahren insgesamt 35.000 Wohnungen bauen. Langfristig in der Vorbereitung haben die sechs Gesellschaften zusammen Projekte für über 60.000 Wohnungen. Wenn wir die Genehmigungsverfahren beschleunigen, können wir daraus die 35.000 in den kommenden fünf Jahren schaffen.
Welche Maßnahmen halten Sie darüber hinaus für sinnvoll, um die Mietpreisentwicklung zu dämpfen?
Neubau ist die einzige Lösung, die uns dauerhaft helfen wird.
Wie stehen Sie zur Enteignung privater Wohnungsunternehmen, für die sich immerhin mehr als 57 Prozent der Berliner ausgesprochen haben?
Das ist kein sinnvoller Weg. Berlin würde sehr viel Geld für die Entschädigung der Wohnungseigentümer ausgeben müssen – ohne dass damit eine einzige neue Wohnung entsteht. Das Geld kann effektiver in der Förderung des Neubaus eingesetzt werden. Es wäre auch kein gutes Signal an Investoren, wenn Berlin nach Gesetz handelnde Wirtschaftsunternehmen enteignen würde. Sofern der Senat sich mit den privaten Vermietern im Rahmen eines Wohnungsbau-Bündnisses auf Mietsteigerungen im moderaten Umfang einigt, gibt es auch keinen Grund zu enteignen. Ich glaube, die meisten Player sind dazu bereit.
Hat Berlin eine Vision für die wachsende Stadt?
Es hat 2016 schon mal eine Leitbildentwicklung für die wachsende Stadt gegeben, in der Flächenpotenziale erhoben und Rahmenbedingungen dafür entwickelt wurden. Der bisherige Regierende Bürgermeister, Michael Müller, hat im vergangenen Dreivierteljahr in einem Beteiligungsprozess ein Leitbild 2030 entwickelt, in dem auch die Themen Wohnen und Mobilität eine wichtige Rolle spielen. Ich glaube, dass sich die neue Regierung mit diesen Visionen und Strategien noch einmal intensiv beschäftigen wird. Denn es gibt mittlerweile viel nachzuschärfen.
von Michael Gneuss