Fokus

Vielfalt unternimmt

Berlin, sagt Dr. Han Xiao, sei ein Schmelztiegel für globale Talente. „Seine kosmopolitische Natur zieht Spitzenkräfte aus der ganzen Welt an und macht die Stadt zu einer Brutstätte für Innovationen und neue Perspektiven.“ Xiao ist CEO des 2020 gegründeten Künstliche-Intelligenz-Start-ups Jina AI, mit Headquarter in Berlin und zwei Büros in den chinesischen Metropolen Peking und Shenzhen. Jina AI mit seinen aktuell rund 30 Beschäftigten hat ein Open-Source-Ökosystem entwickelt, das es Unternehmern und Entwicklern ermöglicht, mit hoher Verfügbar- und Skalierbarkeit nach Informationen aller Art zu suchen. Der gebürtige Chinese Han Xiao gehört zu jenen Zehntausenden migrantischen Unternehmern und Unternehmerinnen in Berlin, die mehr als je zuvor den hiesigen Wirtschaftsstandort prägen. Sie wirken heute in allen Branchen, vom Einzelhandel bis zu hoch spezialisierten KI-Firmen wie Jina AI. Nicht umsonst ist nach einer Studie der Technologiestiftung Berlin die Anzahl der Unternehmen, die künstliche Intelligenz einsetzen, in der Hauptstadt doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt.
„Die migrantische Wirtschaft spielt für den Wirtschaftsstandort Berlin eine entscheidende Rolle und leistet einen wichtigen Beitrag zur Vielfalt und Innovationskraft der Stadt“, sagt Nicole ­Korset-Ristic, Vizepräsidentin der IHK Berlin. „In Berlin hat fast jeder Vierte eine nicht deutsche Staatsangehörigkeit, und die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund ist noch höher, wenn man Deutsche mit Zuwanderungsgeschichte berücksichtigt.“ Im vergangenen Jahr betrug der Ausländeranteil in Berlin 23,3 Prozent – bundesweit kam er auf 15,2 Prozent. Die größte Gruppe der Ausländer nach Staatsangehörigkeit stellen in Berlin die Türken mit fast 117.000 Menschen – hinzu kommen weitere rund 100.000 eingebürgerte Personen mit türkischem Migrationshintergrund. Zudem sind in der Stadt 66.500 polnische Staatsbürger, knapp 37.000 russische, 36.000 italienische und beinahe 33.000 bulgarische Staatsbürger gemeldet. Aus Indien kommen über 30.000, aus Rumänien fast 29.000 und aus Vietnam rund 28.000 Einwanderer. „Die wirtschaftlichen Aktivitäten von Migrantinnen und Migranten spiegeln diese Diversität wider“, so IHK-Vizepräsidentin ­Korset-Ristic, „und stärken die Berliner Wirtschaft durch eine hohe ­Gründungsdynamik.“ Allein unter den Mitgliedsunternehmen der IHK Berlin hat jedes fünfte eine Geschäftsführerin oder einen Geschäftsführer beziehungsweise eine Inhaberin oder einen Inhaber mit ausländischem Pass. Noch größer ist der Anteil Unternehmender mit Einwanderungsgeschichte.
Das Spitzentrio: 8.251 IHK-Mitgliedsunternehmen stehen unter polnischer Leitung, 7.866 werden von türkischen Staatsbürgern geführt – darunter Dilek Dönmez, deren Firma Özcan Getränke GmbH zu den führenden deutschen Herstellern des Trinkjoghurts Ayran gehört und die mit ihrem Vater Mehmet Özcan eine beeindruckende Erfolgsgeschichte geschrieben hat (siehe Seite 22). Dahinter folgen 4.163 Unternehmen mit rumänischen Geschäftsführern. Mit annähernd 13.000 IHK-Mitgliedsunternehmen unter migrantischer Führung dominiert die Bau- und Immobilienwirtschaft, dahinter rangiert mit rund 12.000 Unternehmen die Branche Tourismus und Gastgewerbe. Und mit jeweils weit über 6.000 Mitgliedsunternehmen sind Banken, Versicherungen, Finanzdienstleistungen sowie Digitale Wirtschaft und Gesundheitswirtschaft entsprechend registriert.

Mehr als Dönerbuden und Spätis

„Wir haben in Berlin einen gut aufgestellten Branchenmix und sind nicht nur in einigen wenigen Sparten erfolgreich“, sagt Michael Biel, Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe, „migrantische Unternehmen und Menschen mit Migrationshintergrund sind in Berlin in allen Bereichen aktiv.“ Dies zeige sich auch an den Erwerbstätigenzahlen: „Insgesamt arbeiteten 2023 rund 700.000 Menschen mit Migrationshintergrund in Berlin, die sich auf zahlreiche Wirtschaftszweige verteilen – im Handel, aber auch bei den Informations- und Kommunikationsdienstleistungen und im Gesundheits- und Sozialwesen.“ Das gelte zudem für die freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen und für das Gastgewerbe, aber genauso für die produzierenden Branchen der Industrie und des Baugewerbes.
Einwanderer, so belegen es zahlreiche Studien, sind besonders gründungsaffin. Ihre Gründungsquote ist bis zu doppelt so hoch wie die der Nicht-Migranten. Und sie verfügen meist über einen akademischen Hintergrund, der es ihnen ermöglicht, mehr und mehr wissensintensive Dienstleistungen anzubieten. Fakten, die im totalen Widerspruch stehen zum Bild, das die Öffentlichkeit im Alltag von migrantischer Wirtschaft wahrnimmt: Dönerbuden, Nagelstudios, Barber- shops oder Spätis sind aber längst zu Relikten vergangener Zeiten geworden.
„Berlin weist insgesamt ein dynamisches Gründungsgeschehen auf“, stellt Wirtschaftsstaatsekretär Michael Biel fest, „das von unserer Senatsverwaltung durch eine Vielzahl von Maßnahmen gezielt gefördert wird.“ Zum Beispiel mit der im Januar 2019 ins Leben gerufenen Lotsenstelle für migrantische Selbstständigkeit. „Diese Institution bietet Beratungsleistungen an, die die Bedürfnisse von Migrantinnen und Migranten adressieren, zum Beispiel bei der Kommunikation mit Behörden.“ In der Seminarreihe „Vielfalt gründet“ werden seit mehr als zwei Jahrzehnten Gründungsschulungen in mehreren Sprachen offeriert.
Zudem wurde 2022 das Landesbürgschaftsprogramm „bbb-welcome“ in Zusammenarbeit zwischen der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe sowie der Bürgschaftsbank Berlin eingeführt. „Dieses spezielle Programm soll Geflüchteten den Zugang zu Finanzierungen von unternehmerischen Vorhaben ermöglichen.“ Neben solchen Fördermaßnahmen wird in Berlin regelmäßig der Preis „Vielfalt unternimmt“ vergeben, der herausragende migrantische Unternehmerinnen und Unternehmer würdigt.

IHK unterstützt Integration

Zu den Partnern von „Vielfalt unternimmt“ gehört auch die IHK Berlin, die das wirtschaftliche Engagement von Menschen nicht deutscher Herkunft oder Unternehmen mit Migrationsgeschichte durch ein breites Spektrum an Maßnahmen und Programmen unterstützt. IHK-Vize-Präsidentin Nicole Korset-Ristic nennt nur zwei Beispiele: „Wir stellen sicher, dass Gründungsangebote in mehreren Sprachen zugänglich sind, um Sprachbarrieren zu reduzieren und eine bessere Integration in den Markt zu ermöglichen.“ Und gemeinsam mit anderen Partnern biete die IHK den Business Immigration Service an, der ausländischen Unternehmen, Existenzgründern und qualifizierten Arbeitskräften bei der Unternehmensgründung und der Ansiedlung hilft.
Migrantische Unternehmen und Entrepreneure setzen aber auch zunehmend auf Selbsthilfe. „In den ethnischen Communities sind Business-Netzwerke weit verbreitet“, sagt ­Dilara Erdem, IHK-Branchenmanagerin Tourismus und Gastronomie. „Dort wird man beraten oder berät zum Unternehmensauf oder -ausbau, zur Standortsuche oder zu kommunikativen Maßnahmen, um in Berlin Fuß zu fassen.“ Vor zwei Jahren hat Dilara Erdem selbst ein Netzwerk mit türkeistämmigen Unternehmerinnen aufgebaut. „Daraus hat sich eine Plattform gebildet, der mittlerweile 80 Unternehmerinnen, Freiberuflerinnen und gründungsinteressierte Frauen angehören.“
Bei der jüngsten Verleihung des „Vielfalt unternimmt“-Preises brachte es Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey auf den Punkt: Migrantische Unternehmende seien mit ihrem Engagement und ihrem persönlichen Einsatz einer der Gründe, weshalb sich Berlin wirtschaftlich deutlich über dem Bundesdurchschnitt entwickelt.
von Almut Kaspar