Fokus

Die neue Stadt

Verändertes Konsumverhalten und Krisen beschleunigen den Strukturwandel in urbanen Zentren. Alle Akteure müssen jetzt gemeinsam an attraktiven Zukunftskonzepten arbeiten.
Zentren und Einkaufsstraßen stehen vor großen Herausforderungen. Neben den Folgen der Corona-Pandemie und aktuellen Beeinträchtigungen des Konsumklimas beschleunigen der Onlinehandel und die sinkende Attraktivität des Prinzips Kaufhaus den Wandel. Immer mehr kleinere inhabergeführte Einzelhandelsbetriebe schließen, damit geht ein Teil der Individualität der Kieze verloren. Allerdings betrifft dieser Strukturwandel die vielen Zentren der Hauptstadt nicht im gleichem Maße.
Beispielsweise ist es gelungen, Berlins City West als Shopping-Standort attraktiver zu gestalten. So gaben bei einer Umfrage im Auftrag von IHK Berlin, AG City und Handelsverband Berlin-Brandenburg (HBB) knapp 35 Prozent der Befragten an, die Attraktivität von Kurfürstendamm und Tauentzienstraße habe sich gesteigert. Knapp 45 Prozent attestierten eine gleichbleibende Attraktivität. Die meisten Befragten kommen überwiegend mit Bus oder Bahn zum Einkaufen in die City West; das mit Abstand meiste Geld geben im Schnitt allerdings jene Besucher aus, die mit dem Auto zum Shoppen fahren. Bemerkenswert: Fast 70 Prozent der Teilnehmer nutzen zwar den Onlinehandel, besuchen aber dennoch die City West unverändert häufig zum Einkaufen (Bundesschnitt 48,6 Prozent).

Willkommenskultur mit City Guides

Dafür wird auch eine Menge getan. Angefangen bei der Erhöhung der Willkommenskultur durch City Guides über die kostenfreie Einwahlmöglichkeit ins WiFi bis hin zu verschiedenen Kunst- und Kulturangeboten, sorgt das große Engagement der Standortgemeinschaft für die ungebrochene Attraktivität am Standort rund um den Ku’damm und Tauentzien. Zur Finanzierung dieses Engagements mit einem geplanten Budget von rund 8,9 Mio. Euro diente ein Business Improvement District (BID). Weltweit als pragmatisches und funktionales Instrument in der Stadtentwicklung zum Erhalt oder zur Verbesserung der Standortqualität etabliert, werden beim BID zu 100 Prozent private Gelder investiert, um über die Maßnahmen der Stadt hinaus zusätzliche Projekte umzusetzen. „BIDs können keine toten Innenstädte wiederbeleben, jedoch Zentren, die in ihrer Struktur funktionsfähig sind, in ihrer Qualität so aufwerten, dass die Lebendigkeit erhöht sowie Frequenzen und Umsätze der Gewerbetreibenden gesteigert werden und sich das am Ende auch nachhaltig auf den Wert der Immobilien auswirkt“, erklärt Romy ­Schubert, Geschäftsführerin der BID Ku’damm-Tauentzien GmbH. „Durch unsere Aktivitäten wurde am Standort damit ein Qualitätsniveau erreicht, dass sich mit großen internationalen Metropolen messen kann“, fügt sie hinzu.
Mittlerweile haben sich Gleichgesinnte mit fachlicher Expertise auch des über Jahrzehnte vernachlässigten Hardenbergplatzes angenommen. Unter dem Namen „Smart Space Hardenbergplatz“ soll der Bereich vor dem Bahnhof Zoologischer Garten bis 2026 gemeinsam mit der Berliner Stadtgesellschaft vom Bahnhofsvorplatz zu einem Stadtplatz mit erhöhter Aufenthaltsqualität und smarten Mobilitätsangeboten weiterentwickelt werden.
Sowohl die Umfrage als auch die Beispiele aus der City West zeigen: Städtische Zentren haben eine Zukunft, vorausgesetzt, Erreichbarkeit, Angebotsmix und Erlebnisse sind gegeben. Für die Berliner Kieze mit ihren eigenen und unverwechselbaren Charakteren bedeutet dies, ihre Besonderheiten herauszuarbeiten, bekannter zu machen und für Bewohner wie auch für Gäste weiterzuentwickeln. „Bei dieser aktiven Umgestaltung unserer Zentren fällt den privaten Akteurinnen und Akteuren eine maßgebliche Rolle zu, und zwar aus allen Branchen, also sowohl Handel, Gastronomie und Immobilienwirtschaft als auch Tourismus und Kreativwirtschaft“, betont Robert Rückel. „BIDs können hier ein gutes Instrument sein, um privates Engagement zielgerichtet in jene Projekte zu lenken, die den Standort aus Sicht der lokalen Wirtschaft voranbringen“, ist der Vizepräsident der IHK Berlin überzeugt. Allerdings ist hierfür in Zukunft wesentlich mehr Unterstützung in Form von Beratung und Anschubfinanzierung nötig, als es bisher in Berlin der Fall war. „Da erhoffe ich mir vom neuen Berliner Senat mehr Engagement, zum Beispiel in Form einer Senats-BID-Direktion, die mit Know-how und Personal erste Hürden überwinden hilft“, so Robert Rückel.
Dies ist nicht der einzige Vorschlag der IHK Berlin, mit dem sich die Attraktivität der Zentren in der Hauptstadt erhalten oder sogar verbessern lässt. Viele weitere konstruktive Ideen finden Interessierte im Businessplan ­„Pragmatische Stadt- entwicklung“ der IHK Berlin. Dieser im vergangenen Jahr veröffentlichte Katalog eines Expertenteams benennt Produkte, messbare Ziele, die nötigen Ressourcen sowie die relevanten Stakeholder, mit denen die Stadtgesellschaft die Verbesserung des Zusammenlebens und der Entwicklung Berlins zu einer nachhaltigen Weltmetropole vorantreiben kann.
Einer der weiteren Lösungsansätze beschäftigt sich mit der Frage, welche Perspektiven es mit dem Umgang von Leerständen gibt. „Leerstände sind per se nicht schlecht oder schädlich“, sagt Susann Liepe. „Eine gewisse, aber geringe Leerstandsquote in Geschäftszentren ermöglicht erforderliche Modernisierungen der Gewerbeflächen und bietet Spielräume für die Ansiedlung neuer und innovativer Geschäftsmodelle“, ergänzt die Geschäftsführerin der Lokation:s Gesellschaft für Standortentwicklung mbH. Gefährlich wird es nach Überzeugung der Expertin für Standortentwicklung aber, wenn die Leerstände in einem Zentrum zunehmen und zu einer nachlassenden Attraktivität und abnehmenden Passantenfrequenzen führen. Dies gelte es etwa mithilfe einer sinnvollen Zwischennutzung zu vermeiden. „Grundsätzlich ist dabei aus Sicht der Zentrensicherung eine attraktive Zwischennutzung eine Nutzung, die für den Standort Frequenz erzeugt, unabhängig davon, ob es sich um eine kommerzielle Handels- oder Gastronomienutzung, ein kulturelles oder Bildungsangebot handelt beziehungsweise eine soziale Nutzung beinhaltet“, erklärt Susann Liepe. „So eine Zwischennutzung sollte aber inhaltliche, räumliche und zeitliche Kopplungseffekte zu anderen Nutzungen aufweisen.“

Kulturelle Zwischennutzung

Wie praktikable Lösungen im Sinne einer pragmatischen Stadtentwicklung aussehen können, zeigt das Beispiel des Vereins Transiträume Berlin. Dessen zentrales Anliegen ist es, temporären Leerstand von Berliner Gewerbeimmobilien als Chance zu sehen und diese zugunsten der Stadtgesellschaft sowie der Immobilienobjekte zu nutzen. „Unser Verein dient einerseits dem Erfahrungsaustausch mit Immobilienunternehmen, die auf der Suche nach temporären Zwischennutzungskonzepten sind“, erklärt Michael Hapka, Vorstandsvorsitzender von Transiträume Berlin. „Dabei geben wir die Erfahrungen von bereits realisierten temporären Zwischennutzungskonzepten weiter.“ Andererseits unterbreite der Verein den Eigentümern Vorschläge zur kulturellen Zwischennutzung und berate Kulturschaffende beim Finden passender Locations für ihre Projekte. „Die Stadt Berlin sollte sich als Ziel setzen, die im Grunde frappierend einfache Möglichkeit, mit Leerstand positive Effekte zu erzielen, zu einem Standard zu machen“, schlägt Hapka vor. Auch IHK-Vizepräsident Rückel möchte die sich durch sinnvolle Zwischennutzungen ergebenden Chancen mehr in den Fokus rücken. „Eine zentrale Zwischennutzungsagentur kann hier helfen, Leerstände und Nutzungen zu matchen, aber auch Fragen zur Projektfinanzierung zu beantworten.“
Es gibt viele Ideen und Vorschläge, wie Zentren attraktiv und selbstbestimmt bleiben können, etwa durch eine partnerschaftliche Zusammenarbeit von Gastronomie und Bezirken. So hat etwa der Bezirk Mitte die Möglichkeit verstetigt, dass Parkbuchten im öffentlichen Straßenland entweder für Schankvorgärten von anliegenden Gaststätten oder für Parklets als Orte der Begegnung genutzt werden können.
Von Jens Bartels