BW 11/2021 - AGENDA

Koalition für die Wirtschaft

Die Wirtschaft muss stärker im Fokus stehen: Präsident und Ausschüsse der IHK Berlin stellten ihre Forderungen an die Politik vor
Mehr als 1,56 Millionen Menschen in Berlin haben eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung – insbesondere dank der Wirtschaft. Die Gewerbesteuereinnahmen des Landes haben sich in zehn Jahren fast verdoppelt. 70 außeruniversitäre Forschungseinrichtungen festigen den Ruf Berlins als exzellenten Innovationsstandort. Doch eine florierende Wirtschaft sei kein Selbstläufer, warnten die Vertreter des IHK-Ehrenamtes beim Pressetermin Anfang Oktober, bei dem sie die Erwartungen der Wirtschaft an die Politik formulierten. Dazu gehören vor allem Bürokratie-Abbau, Verzicht auf Steuererhöhungen, die Modernisierung und Digitalisierung der Verwaltung, eine Wohnungsbauoffensive, der Kampf gegen den Bildungsnotstand und eine Mobilitätswende, die den Wirtschaftsverkehr nicht lähmt. Wer die Wirtschaft ausbremse, bremse Berlin als einzige Weltstadt Deutschlands aus, so IHK-Präsident Daniel-Jan Girl.
Wie Girl betonte, gebe es nur mit einer funktionierenden Wirtschaft Wohlstand und damit das Geld, um Straßen und Wohnungen zu bauen, Schulen zu finanzieren und Innovation zu ermöglichen. Auch IHK-Vizepräsident Sebastian Stietzel betonte die wichtige Rolle der mittelständischen Unternehmen bis zu 50 Mitarbeitern, „die mit 98 Prozent die Berliner Wirtschaft ausmachen. Von der neuen Landesregierung erwarten wir eine Wirtschaftspolitik, die auf diese Berliner Wirtschaftsstruktur fokussiert“. Dabei mahnte Stietzel u. a. die zügige Optimierung und Digitalisierung aller wirtschaftsrelevanten Verwaltungsservices an.
Gerd Woweries, Vorsitzender des Berufsbildungsausschusses der IHK, wies auf den zu erwartenden dramatischen Fachkräftemangel hin und betonte: „Ausbildung kann Abhilfe schaffen. Als Geschäftsführer eines Unternehmens, das für den eigenen Konzern und rund 200 Unternehmen aus Berlin und Brandenburg ausbildet, weiß ich aber auch: Es wird immer schwerer, Jugendliche für die Ausbildungsplätze zu finden.“ Woweries forderte eine Steuerung der beruflichen Bildung nach dem Vorbild des Hamburger Institutes für Berufliche Bildung, in der alle Ressorts und Einrichtungen gebündelt sind. Außerdem sprach er sich für vergleichbare Anreize für Azubis und Studierende aus.

Immobilienwirtschaft ist Teil der Lösung

Zum Thema Wohnungsmarkt betonte Thomas Groth, Ausschuss Bau- und Immobilienwirtschaft und Mitglied der Vollversammlung, dass die Berliner Immobilienwirtschaft Teil der Lösung sei, wenn es um mehr bezahlbaren Wohnraum in der Stadt geht. „Von der Politik benötigen wir hierzu klare Rahmenbedingungen wie die Bereitstellung von Flächen für den Neubau, eine starke Beschleunigung bei der Schaffung von Baurecht, kluge Instrumente der Neubauförderung und schnellere Genehmigungsprozesse einer mit ausreichend Personal und zeitgemäßer Technik ausgestatteten Verwaltung“, so Groths Forderung.
Anne-Kathrin Kuhlemann, Ausschuss Wirtschaftspolitik, griff das Enteignungsvolksbegehren auf und resümierte: „Wer Enteignungen erwägt, gefährdet den Wirtschaftsstandort auch über die Wohnungsbranche hinaus.“ Die UnterUnternehmerin sieht aber große Chancen in Digitalisierung und Nachhaltigkeit, die „Berlin vor allem als Leuchtturm einer vernetzten und stadtverträglichen Industrie auf die Karte setzen können. So steigern wir die Wertschöpfung, schaffen gute Jobs und erhöhen die Krisen-Resilienz in Berlin und der Region.“ Dass Wirtschaft und Verwaltung als Mannschaft zusammenspielen müssen, damit die Gesundheitsbranche der Metropolregion auch künftig im internationalen Wettbewerb mithalten kann, betonte Günther Pätz, Ausschuss Gesundheitswirtschaft: „Dafür muss aber einiges getan werden: Die Genehmigungsprozesse für wichtige pharmazeutische Herstellungen dauern zu lange! Wir brauchen deutlich vereinfachte Verfahren etwa bei der Verlängerung bereits genehmigter Prozesse. Der Einsatz vorhandener, digitaler Produkte der Gesundheitswirtschaft darf nicht länger an fehlenden einheitlichen Datenstandards scheitern.“

Aktionsplan Innenstadt gefordert

Als Vertreterin des IHK-Ausschusses Handel wies Martina Tittel auf die Folgen der Pandemie hin: „Leerstände, auch an zentralen Stellen wie dem Tauentzien oder der Friedrichstraße. Der Wandel in den Innenstädten hatte sich schon länger abgezeichnet, aber Corona hat diesen Trend so stark beschleunigt, dass dringender Handlungsbedarf besteht.“ Tittel, die auch Mitglied der Vollversammlung ist, wies darauf hin, dass „wir von der Politik dringend einen Aktionsplan Innenstadt brauchen, um die Geschäftsstraßen vor einem drohenden Funktions- und Bedeutungsverlust zu bewahren.“ Unerlässlich sei auch die Stärkung der Akteure vor Ort. Von Corona ebenfalls stark betroffen ist der Tourismus. Wie Robert Rückel, Ausschuss Tourismus und Mitglied der Vollversammlung, ausführte, hätten Touristen vor Corona 17 Mrd. Euro in der Stadt ausgegeben. „Ohne sie müssten nicht nur Hotels, sondern auch Clubs, Theater, Museen, Attraktionen und Restaurants schließen, und über 200.000 Berliner wären ohne Arbeit. Vom neuen Senat erwarte ich daher ein klares Bekenntnis zum Tourismusstandort: Die Übernachtungssteuer muss zu 100 Prozent in den Standort reinvestiert werden, statt Besucher mit neuen Abgaben wie einem ÖPNV-Zwangsticket zu belasten.“ Außerdem fordert Rückel einen Tourismus-Staatssekretär, der Ansprechpartner der Querschnittsbranche sein müsse, „damit das Behörden-Pingpong zwischen vier Senatsverwaltungen ein Ende hat“.

von Claudia Engfeld