BW 04/2021 – Schwerpunkt

Game-Changer aus dem Labor

Mit einigen wenigen Mitarbeitern hält Daniel Nathrath im Büro am Alexanderplatz die Stellung. Mit Beginn der Pandemie schickte er den Großteil der 200 Beschäftigten ins Homeoffice. Über Langeweile klagt dort niemand. Im Gegenteil. Wie viele Akteure der Berliner Gesundheitswirtschaft beschäftigt der Ausbruch von Sars-CoV-2 auch Nathraths 2011 gegründetes Start-up Ada Health intensiv. „Wir haben sofort unsere Medizin-App um Covid-19 erweitert“, sagt der CEO. Mit Adas kostenloser App können Nutzer im Krankheitsfall dank künstlicher Intelligenz in Eigenregie eine erste Anamnese durchführen, bevor sie, falls nötig, einen Arzt aufsuchen.
Nach mehr als fünf Jahren Entwicklungszeit war der virtuelle Ratgeber 2016 an den Start gegangen. Mehr als elf Millionen Nutzer hätten Ada seitdem um Rat gefragt, mehr als 22 Millionen Mal seien Symptome analysiert worden, sagt Nathrath. Neben der App-Erweiterung entwickelten die Berliner für Unternehmen einen Covid-19- Screener, den diese auf ihrer Website integrieren können. Anhand der Symptome erfahren die Mitarbeiter oder Kunden, ob sie an Corona erkrankt sein könnten und sich testen lassen sollten.
Wichtig seien Kooperationen über Sektoren hinweg, erklärt Nathrath am Beispiel von Labor Berlin, dem gemeinsamen Laborunternehmen der Charité und des kommunalen Klinikkonzerns Vivantes: „Nach Ausbruch der Pandemie wurden in den Testzentren alle Papiere noch per Hand ausgefüllt, was zu langen Wartezeiten führte. Mit einem von uns entwickelten Tool haben wir den Prozess digitalisiert, die Ergebnisse waren dann zum Beispiel über eine Art QR-Code abrufbar.“
Kaum ein Tag vergeht seit Ausbruch der Pandemie, an dem nicht Personen oder Einrichtungen aus der Hauptstadtregion in den Medien mit ihren Expertisen für Aufmerksamkeit sorgen, allen voran das Robert Koch-Institut mit seinem Direktor, Prof. Lothar Wieler, die Charité - Universitätsmedizin Berlin mit dem Vorstandsvorsitzenden Prof. Heyo Kroemer und schließlich dem omnipräsenten Virologen Prof. Christian Drosten. Sie alle sind Teil eines dynamischen Ökosystems aus Unternehmen, Wissenschaftlern, Technologieparks und Kliniken, darunter mit der Charité eine der größten in Europa.

Corona rückt Gesundheit in den Fokus

Für Stefan Oelrich, Vorstandsmitglied der Bayer AG und Leiter der Pharmadivision, ist mit Ausbruch der Pandemie Gesundheit als wichtiges Gut in den Fokus der gesellschaftlichen Debatte gerückt. „Es eröffnet sich erstmals seit Langem eine wichtige Möglichkeit, Einverständnis darüber herzustellen, dass alle am Gesundheitswesen Beteiligten viel enger zusammenarbeiten müssen, um die medizinischen Herausforderungen der Zukunft – über die Pandemie hinaus – zu bewerkstelligen.“ Insbesondere werde jetzt das Verständnis dafür aufgebracht, dass Innovationen im Gesundheitsbereich essenziell für Wohlstand und Wohlfahrt seien und verstärkt unterstützt werden müssten. Für Oelrich steht fest: „Berlin hat mit seinem besonderen Gesundheitscluster jetzt die Möglichkeit, zu Standorten wie beispielsweise Boston aufzuschließen.“
Um alle Akteure aus der Gesundheitswirtschaft an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Klinik, Wirtschaft und Politik zu vernetzen, etablierten Berlin und Brandenburg im Jahr 2007 als unabhängige Kommunikationsplattform das Cluster HealthCapital Berlin Brandenburg. Mit einem ambitionierten Ziel: „Wir wollen Berlin-Brandenburg zu einem internationalen Spitzenstandort für Life Sciences machen. Um die ,Zukunft der Gesundheit‘ zu gestalten, entwickeln wir den Standort als Versorgungs-, Wissenschafts-, Ausbildungs- und Wirtschaftsstandort für Gesundheit weiter, immer unter der Prämisse, dass vor allem die Bürgerinnen und Bürger von diesen Entwicklungen durch Zugang zu einer erstklassigen Versorgung in der Region profitieren“, heißt es im 2020 veröffentlichten Masterplan „Berlin-Brandenburg – Zukunft der Gesundheit“. Woran es noch fehlt, erklärt Clustermanager Dr. Kai Bindseil. „Berlin und Brandenburg sind schon jetzt in der Gesundheitswirtschaft die am besten vernetzte Region in Europa, aber wir müssen dies noch viel stärker international kommunizieren.“ Die Exzellenz in der Wissenschaft müsse zudem weiter ausgebaut und in den Life Sciences müssten Start-ups sowie Ausgründungen von Hochschulen stärker gefördert werden. „Gerade in den Lebenswissenschaften muss bereits sehr früh stark investiert werden“, sagt Bindseil, der bei der Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie GmbH die Abteilung Gesundheitswirtschaft leitet. Verglichen mit London oder den USA, fehle es aber an starken Finanzquellen. Eine große Herausforderung sei zudem der Fachkräftemangel. Vom Pfleger im Krankenhaus bis zum KI-Experten in der Pharmaindustrie werde qualifiziertes Personal gebraucht, um das Ziel zu erreichen.
Laut Berlin Partner arbeiten rund 400.000 Beschäftigte in der Gesundheitswirtschaft in Berlin und Brandenburg. Mehr als 20.000 Unternehmen erwirtschaften etwa 30 Mrd. Euro Umsatz. Das Spektrum reicht von Pharma, Biotech, Medizintechnik, Digital Health über Kliniken, Reha-Einrichtungen, dem größten Kliniklabor Europas – Labor Berlin – bis zu acht Technologieparks. Branchengrößen wie B. Braun Melsungen, Bayer, Berlin-Chemie, Pfizer Deutschland, Eckert & Ziegler und Carl Zeiss Meditec sitzen in der Hauptstadtregion. Daneben sind rund 40 wissenschaftliche Einrichtungen mit Life-Science-Bezug vertreten, darunter das Deutsche Herzzentrum, Helmholtz-, Leibniz- und Max-Planck-Institute. Etwa 30 Universitäten und Hochschulen bieten mehr als 200 Studiengänge im Bereich Gesundheit und Lebenswissenschaften an.
Unternehmen aus dem Cluster, vom Startup bis zur Pharmaindustrie, waren frühzeitig in den Kampf gegen das neue Virus involviert: Sie beschafften Desinfektionsmittel, bauten Testkapazitäten auf und statteten das Behandlungszentrum auf dem Messegelände aus. Auch beim Top-Thema Impfen steuert die Berliner Wirtschaft Expertise bei, darunter Konzerne wie Pfizer und Bayer, die bei der Entwicklung eines Vakzins mit der Tübinger Biotechfirma CureVac kooperieren. „Zusätzlich zur Unterstützung des Unternehmens bei der Zulassung eines mRNA-Impfstoffs ist für das Jahr 2022 die Produktion von 160 Mio. Dosen des Vakzins in Wuppertal geplant. Erste Impfstoffdosen können womöglich bereits Ende des Jahres zur Verfügung gestellt werden“, sagt Bayer-Vorstand Oelrich.

Schnelle Lösungen aus dem Mittelstand

Gleichzeitig sorgt der traditionsreiche Mittelstand entscheidend dafür, dass im Jahr zwei nach Ausbruch von Sars-CoV-2 wieder Normalität einkehren könnte. „Teil der Lösung zur weltweiten Überwindung der Pandemie zu sein, ist ein sehr schönes und befriedigendes Gefühl für unsere Mitarbeiter“, sagt Alexandra Knauer, Geschäftsführerin der Knauer Wissenschaftliche Geräte GmbH. Das 1962 von ihren Eltern gegründete Unternehmen stellt Hightech-Laborgeräte her, mit denen Anwender Flüssigkeitsgemische sehr genau analysieren können, etwa Pestizide im Babybrei oder Koffein im Kaffee.
Ihr Know-how in der Fluidik, im Anlagenbau und im Engineering haben die Berliner genutzt, um nach einer Anfrage binnen nur drei Monaten Anlagen für die Produktion von Lipid-Nanopartikeln (LNP) liefern zu können. Knauers LNP-Anlagen benötigen Pharma-Firmen die für die Herstellung mRNA-basierter Vakzine. Die werden seit Corona erstmals in größeren Mengen produziert. Um sie zu schützen, bevor sie im Körper wirksam werden können, müssen die mRNA-Wirkstoffe in Lipid-Nanopartikeln eingekapselt werden. „Wir sind unseres Wissens nach in Deutschland der einzige Hersteller solcher Anlagen, und wir gehen davon aus, dass weltweit die meisten mRNA-Impfstoffe unter Verwendung von Knauer- Anlagen produziert werden“, sagt die Inhaberin des Familienunternehmens.
Die schnelle Reaktion hat sich ausgezahlt. Die Impfstoffsysteme hätten im vergangenen Jahr den Umsatz um 50 Prozent erhöht, sagt Knauer, die den Auslandsanteil am Umsatz mit rund 60 Prozent beziffert. Auch in diesem Jahr rechnet die Diplom- Kauffrau mit Aufträgen aus dem In- und Ausland von Firmen, die mRNA-basierte Impfstoffe auch für andere Krankheiten erforschen und produzieren wollen. Eine Entwicklung, von der nicht zuletzt der Berliner Arbeitsmarkt profitiert. Ende 2020 beschäftigte der Mittelständler rund 145 Mitarbeiter, Ende dieses Jahres könnten es etwa 170 sein. „Berlin ist genau der richtige Standort für Knauer, denn hier gibt es viele Forschungsinstitutionen, Universitäten und Firmen, mit denen wir kooperieren können und die bei uns bestellen“, unterstreicht die Geschäftsführerin. Neben Konzernen und Mittelständlern sind ganz junge Firmen engagiert. In Adlershof etwa arbeiten Wissenschaftler des 2018 gegründeten Start-ups Belyntic an einem Impfstoff gegen Corona. Das dabei eingesetzte Verfahren ermögliche eine signifikant höhere Verlässlichkeit in der Wirkstoffforschung und könne die personalisierte Peptidmedizin, etwa auch zur Bekämpfung von Krebserkrankungen, Wirklichkeit werden lassen, so die Jury, die Belyntic 2020 mit dem Innovationspreis Berlin Brandenburg auszeichnete. In diesem Jahr strebt das Start-up laut Co-CEO Dominik Sarma eine weitere Finanzierungsrunde an. Die Zahl der Mitarbeiter von aktuell neun könne dann weiter steigen. 2022/23 rechnet Sarma mit dem Eintritt in die klinischen Phasen. „Wir wollen einen Impfstoff der zweiten Generation entwickeln, der unabhängig von Mutationen sowie lagerstabil ist und leicht herzustellen“, erläutert der Gründer.
Schon seit Beginn der Pandemie unterstützt Deutschlands größtes Pharmaunternehmen Bayer auch an seinem Standort Berlin vor allem die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung. Unter anderem bauten 140 Mitarbeiter in einer freiwilligen Initiative ein Sars-CoV-2-Testlabor auf. In Zusammenarbeit mit Labor Berlin wurde eine große Zahl von DNA-Testgeräten aus der eigenen Forschung zusammengezogen und ein neuer Testablauf in kürzester Zeit validiert. Kostenlos stellte Bayer Atemschutzmasken, Beatmungsgeräte, Desinfektionsmittel sowie Medikamente zur Verfügung. „Da wir die AHA-Regeln sehr restriktiv angewendet haben, gelang es uns, gleichzeitig die Produktion von lebenswichtigen Arzneimitteln aufrechtzuerhalten“, unterstreicht Vorstand Oelrich. Gerade an einem so großen Standort wie der Pharma-Unternehmenszentrale in Berlin mit ihren integrierten Forschungs-, Produktions- und Verwaltungseinheiten und rund 5.000 Beschäftigten sei dies eine besondere Herausforderung.
Während deutsche Start-ups im vergangenen Jahr insgesamt deutlich weniger Kapital von Investoren erhielten – ein Minus von 15 Prozent auf 5,3 Mrd. Euro –, legten Gesundheits-Startups zu. Mit 109 Transaktionen (plus 27 Prozent) belegte der Sektor nach Software & Analytics den zweiten Platz im Ranking. Das Investitionsvolumen kletterte sogar um 42 Prozent auf 670 Mio. Euro, ermittelte das Start-up-Barometer der Beratungsgesellschaft EY. Mit zahlreichen Innovationen sind neben Belyntic weitere junge Unternehmen in Berlin im Kampf gegen die Pandemie aktiv.

Schnelltest mit PCR-Standard

Einen molekularen Schnelltest, der der Klasse der PCR-Tests entspricht, für zu Hause und den dezentralen Einsatz entwickelt die 2016 gegründete Midge Medical GmbH. Und der funktioniere ganz einfach, erklärt Gründer und Geschäftsführer Michael Diebold. „Man stellt das kleine Gerät zum Beispiel neben die elektrische Zahnbürste, nimmt vor dem Duschen einen Rachenabstrich, und 15 Minuten später kann man das Ergebnis mit einer Handy-App an der Teststation ablesen.“ Noch im zweiten Quartal rechnet Diebold mit einer Zulassung und plant, danach im deutschen und europäischen Markt zu skalieren. Die biochemischen Teile des Geräts will Midge Medical in Berlin oder Brandenburg produzieren. Davon profitiert auch der Arbeitsmarkt. Von 48 Mitarbeitern Ende 2020 soll die Belegschaft bis Ende des Jahres auf zirka 100 wachsen. Neben Corona eignet sich die Technologie laut Diebold auch für andere Infektionen wie HIV, Hepatitis oder Influenza.
Die kurz vor Ausbruch der Pandemie gegründete Neomento GmbH hat eine Virtual-Reality- Therapie entwickelt, mit der Therapeuten und Kliniken Sozialphobiker trotz Corona-Abstandsregeln behandeln können – im virtuellen Raum. Ein neues Produkt soll bei Abhängigkeitserkrankungen wie Alkoholismus angewendet werden können. Gestartet als Ausgründung des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen in Magdeburg, zog das Start-up rasch in die Nähe seines hauptstädtischen Kooperationspartners Charité, um einen besseren Zugang zu Forschung und Patienten zu haben. Gründer Jens Klaubert sieht im europäischen Start-up- und VR-Hub Berlin zudem bessere Chancen als in Sachsen-Anhalt, qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen. Fünf Beschäftigte hat Neomento, bis Jahresende könnten es im Idealfall 20 sein.

Fokus auf Partnerschaften

Für das forschungsintensive Geschäft der Digital- Health-Start-ups sind Partnerschaften unerlässlich. Das gilt auch für Ada Health. Das Geschäftsmodell war zunächst auf B2C ausgerichtet, im vergangenen Jahr verlagerte sich der Schwerpunkt auf B2B mit Fokus auf Partnerschaften. „Wir kooperieren mit Krankenversicherungen, Regierungen und Gesundheitsversorgern“, erklärt CEO Daniel Nathrath. Als ein Beispiel nennt der ehemalige Unternehmensberater den kalifornischen Gesundheitsdienstleister Sutter Health. Über dessen App oder Website können sich Patienten bei Beschwerden aller Art eine erste Einschätzung geben lassen. Je nach Befund verweist die App an Praxen in der Nähe oder an Krankenhäuser. Willigt der Patient ein, gehen die ermittelten Daten direkt an den Arzt. „Das spart enorm viel Zeit“, so Nathrath. Auch in Deutschland werde aktuell mit Partnern verhandelt.
Mag Corona das zurzeit alles beherrschende Thema sein, wird dennoch gleichzeitig das Profil des Standorts weiter geschärft. So soll noch im ersten Halbjahr in Marzahn-Hellersdorf auf dem Gesundheitscampus des Unfallkrankenhauses Berlin ein „Smart Living & Health Center“ eröffnen. Betreiber ist ein 2018 gegründeter gemeinnütziger Verein mit Mitgliedern unter anderem aus der Gesundheits- und Wohnungswirtschaft. Die Vision, die in diesem Haus der Gesundheitswirtschaft in einer Wohnung greifbare Realität wird: „Jeder Mensch soll mithilfe von bezahlbarer, modernster und sinnvoller Technologie selbstbestimmt so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden leben können.“ Auf einer Ausstellungsfläche wird über Lösungen und neue Entwicklungen bei der Behandlung informiert. Auch einen Pflegestützpunkt und ein Ausbildungszentrum für medizinisches Personal gibt es.
Trotz aller Standortstärken und -chancen sieht die IHK Berlin durchaus noch Luft nach oben und hat sieben Kernforderungen der Berliner Gesundheitswirtschaft zusammengestellt. Es müssten schnellstmöglich die internationalen Mindeststandards und Maßstäbe des digitalisierten Datenaustausches software- und hardwareseitig erfüllt werden. Damit die Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft gelinge, sollten zudem für alle Akteure der Branche bis Ende 2022 die erforderlichen Voraussetzungen für ausreichendes IT-Personal finanziert und umgesetzt werden. Weiter heißt es in dem Papier, dass Berlin Voraussetzungen schaffen solle, dass Berliner Kranken- und Pflegeeinrichtungen bis Ende 2022 ein digitaltechnisch- assistiertes Hygienekonzept betreiben.
„Die Digitalisierung der Branche vorantreiben“, das ist auch für Kai Bindseil vom Cluster HealthCapital Berlin Brandenburg ein Kernthema. 2020 wurden dafür Projekte mit einem Volumen von mehr als 90 Mio. Euro initiiert. Im laufenden Jahr sollen weiterhin Vorhaben an der Nahtstelle zwischen Wirtschaft und Wissenschaft gefördert werden. Vor allem aber, so Bindseil, „müssen wir die Pandemie überwinden“.
von Eli Hamacher