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Zeitgemäßer Schutz für Betroffene
Scham, Sprachbarrieren und unzureichende Hilfsangebote: Viele Betroffene häuslicher Gewalt zögern, Hilfe zu suchen oder finden keine geeignete Unterstützung. MyProtectify bietet einen KI-basierten Hilfechat und umfassende Sensibilisierungsmaßnahmen für Unternehmen, um Betroffene zurück ins Leben zu holen.
Sogol Kordi (mittig), Gründerin von MyProtectify, mit Ronja Zimmermann und Benedikt Görges.
Kaum ist sie zuhause, muss sie ihr Handy abgeben, steht unter Dauerspannung, kontrolliert jedes Wort, jede Bewegung. Ihr Freundeskreis war geschockt, als Sogol das erste Mal über ihre Situation sprach – sie habe doch den perfekten Partner an ihrer Seite. Doch hinter verschlossenen Türen herrschen Angst und Gewalt.
Sogol Kordi war vier Jahre lang Betroffene von körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt in ihrer Beziehung. „Es war ein sehr harter Prozess für mich überhaupt zu realisieren, dass ich Betroffene bin. Irgendwann wusste ich: Ich muss etwas ändern, sonst werde ich diese Beziehung nicht überleben", erzählt die heute 27-Jährige.
Viele Betroffene häuslicher Gewalt scheuen den Ausweg aus Angst vor Unabhängigkeit, drohender Obdachlosigkeit, dem Verlust der Kinder. Und oft wissen sie nicht, an wen sie sich wenden können. „Manchmal gibt es nur winzige Zeitfenster, in denen man Mut fassen kann. Aber sich direkt einer fremden Person zu öffnen, ist eine riesige Hürde. Ich habe mich geschämt“, sagt Sogol.
Im Internet fand sie nur veraltete, unübersichtliche Informationen, keine individuelle Beratung zu jeder Uhrzeit. "Einmal griff ich doch zum Hörer und wollte mir telefonisch Hilfe holen. Ich hatte Fragen wie: Ist das Liebe? Wann fängt Gewalt an? Nach zehn Minuten brach mein Gegenüber das Gespräch ab und verurteilte mich. Zum Abschluss sagte sie: 'Wundern Sie sich nicht, dass Ihnen das passiert, wenn Sie nicht gehen.‘"
Erst eine Fremde auf Instagram gab ihr Halt. „Ich schrieb ihr, wie mein Tag war, wie es mir geht. Sie stellte die richtigen Fragen. Das half mir, mich langsam zu lösen.“ Nach 13 Monaten voller Überwindung und Rückschläge schaffte Sogol den Absprung. Sie verlor ihre Wohnung, ihren Job, ihr soziales Umfeld – aber sie rettete sich in ein neues Leben. „Ich hatte nicht einmal ein eigenes Bankkonto, aber ich habe es geschafft.“
Ein Start-up als Rettungsanker
Mit unerwarteter Stärke und Offenheit ging Sogol 2023 mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit, nutzte ihre betriebswirtschaftlichen Erfahrungen bei Airbus und Netflix und gründete MyProtectify – einen digitalen Rettungsanker für Betroffene häuslicher Gewalt.
Ein Kernstück ist der KI-gestützte Hilfe-Chat, der rund um die Uhr erreichbar ist. „Apps sind zu riskant. Niemand garantiert, dass der gewalttätige Partner das Handy nicht kontrolliert. Deshalb haben wir uns für eine browserbasierte Lösung entschieden, die nicht im Suchverlauf auftaucht.“
Der Chat soll nicht nur Soforthilfe leisten, sondern auch langfristige Unterstützung bieten. „Wir helfen, wieder ins Leben zurückzufinden: Wie finde ich eine Wohnung? Wie bewerbe ich mich auf einen Job? Was ist ein Wohnberechtigungsschein? Wo gibt es ein digitales Bankkonto? Wo kann ich psychologische Beratung bekommen?“ Begleitend dazu sensibilisiert MyProtectify durch Workshops und Impulsvorträge Unternehmen und Organisationen für das Thema häusliche Gewalt.

Ein Team mit einer gemeinsamen Mission
Sogol steht nicht allein da. Neben ihrem Co-Gründer Tobias Pörtner, Experte im Produktmanagement und erfahrener Gründer, wird sie von Psychologin Ronja Zimmermann und Wirtschaftspsychologe Benedikt Görges unterstützt. Gemeinsam verantworten sie die Schulungsangebote für Unternehmen.
„Häusliche Gewalt betrifft nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Wirtschaft“, erklärt Ronja. „Studien zeigen, dass in der EU jährlich Produktivitätsverluste von rund 21 Milliarden Euro entstehen. Die Kosten des Gesundheitssystems sind hier noch nicht integriert. Viele Opfer fallen oft aus, sind weniger produktiv oder können ihren Job nicht halten, weil sie von ihren Partnern isoliert oder gar mit Arbeitsverboten belegt werden.“
„Gleichzeitig wissen viele Unternehmen nicht, wie sie mit dem Thema umgehen sollen", ergänzt Benedikt. „Wir möchten Arbeitgebern Strategien an die Hand geben, um das zu ändern.“ Für den Wirtschaftspsychologen ist häusliche Gewalt vor seiner Arbeit für MyProtectify nicht präsent gewesen. „Erst als mich Co-Gründer Tobias fragte, ob ich mitwirken möchte, habe ich mich intensiv damit auseinandergesetzt. So wie mir geht es vielen. Daher ist es wichtig, auch unternehmerisch an die Aufklärung heranzugehen. Unternehmen haben einen großen Wirkungskreis und spielen als Safe Space eine entscheidende Rolle für Betroffene.“ Die Workshops und Vorträge sind pro Unternehmen – deutschlandweit – individuell gestaltet, für jedes Budget und jede Unternehmensgröße umsetzbar, digital oder in Präsenz, und integrieren immer den richtigen Umgang mit Betroffenen und die wirtschaftlichen Auswirkungen. „Ziel ist, Führungspersonen und Mitarbeitende für das Thema zu sensibilisieren und Hilfsangebote sichtbar zu machen“, erläutert Ronja. Beispielsweise konnte sich MyProtectify kürzlich bei SAP vorstellen und mit dem Unternehmen einen Sensibilisierungsworkshop durchführen. Die Einnahmen aus den Workshops nutzt das junge Team für die weitere Projektfinanzierung und Ausarbeitung des Chats, um verlässliche und dauerhafte Hilfe anbieten zu können.

Ein Weckruf für Unternehmen
Besonders aus eigener Erfahrung weiß Sogol, wie entscheidend die Rolle von Arbeitgebern sein kann. „Ich habe meinem Konzernpsychologen gesagt, dass ich zu Hause geschlagen werde. Die Antwort des Unternehmens? Ich wurde sechs Tage krankgeschrieben – und damit zurück in die Gewalt geschickt. Meine Vorgesetzte stellte mich dann vor dem gesamten Team bloß. Das war einer der schlimmsten Momente für mich.“
Solche Erfahrungen möchte sie anderen ersparen. „Ich liebe mein Team und unsere Mission. Arbeitgeber haben die Macht, eine sichere Umgebung zu schaffen. Hätte ich damals eine Anlaufstelle wie MyProtectify gehabt, wäre mein Weg vielleicht anders verlaufen.“
Der Erfolg des Projekts hängt jetzt von den Akteuren ab, die sich dem Start-up anschließen. Benedikt betont: „Wir brauchen Unternehmen, Institute, die Politik, um die Wahrnehmung häuslicher Gewalt zu erhöhen und MyProtectify als niedrigschwelliges Angebot in die Ersthilfe zu integrieren.“ Besonders männliche Role Models aus der Unternehmerschaft sind gesucht. „Workshops oder Impulsvorträge zu unserem Angebot werden vorwiegend von einer weiblichen Zielgruppe gebucht. Wir wünschen uns, dass auch männliche Führungskräfte aktiv mitgestalten wollen und wiederum andere Männer motivieren, sich hier kompetent aufzustellen“, wünscht sich Benedikt. „Nicht immer sind Männer die Täter, auch Männer brauchen als Betroffene Unterstützung.“ Für Sogol wäre eine Lösung wie MyProtectify damals eine rettende Hilfe gewesen. „Hätte ich ein solches Angebot gehabt, wäre ich vielleicht schneller in ein selbstbestimmtes Leben gekommen.“ Jetzt setzt sie sich dafür ein, dass andere diesen Zugang erhalten. „Scham- und Schuldgefühle müssen die Seiten wechseln. Gewalt ist längst keine Privatsache mehr.“
Sie sind Unternehmerin oder Unternehmer, Institution, Ogranisation oder gehören einem Hilfsangebot an und wollen Kontakt aufnehmen? Sie erreichen MyProtectify über die eigene Webseite oder schreiben Sie eine E-Mail an Ronja Zimmermann: ronja.zimmermann@myprotectify.org. Sie können auch direkt ein Kennenlerngespräch buchen. Via Instagram finden Sie MyProtectify hier.
Veröffentlicht: März 2025
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Julia Romanowski