Stellungnahme der IHK zu Lübeck

Energieversorgungssicherheit der Industrie

Der Ausschuss für Industrie und Energie der IHK zu Lübeck hat sich in seinen Ad hoc Sitzungen am 22. und 23. Juni 2022 mit der aktuellen Energieversorgungssituation der Industrie beschäftigt: Die hohen Energiepreise brächten zahlreiche Unternehmen bereits in existenzielle Nöte, nach zwei Corona-Jahren sei das Eigenkapital vieler Unternehmen zusammengeschmolzen. Dazu komme nun die Sorge um die Sicherheit der Energieversorgung - die mit den deutlich reduzierten Gasflüssen durch die russischen Pipelines von Tag zu Tag größer werde.
Die Wirtschaft der Region steht zu den Sanktionen gegenüber Russland, auch wenn damit Konsequenzen für die Unternehmen verbunden sind. Die Sanktionen müssen aber gezielt und sehr durchdacht sein. Ein Stopp der russischen Gaslieferungen oder nach Öl- und Kohle auch noch ein Gasembargo - für viele Betriebe würde dies das Aus bedeuten. Dabei seien die überwiegend mittelständischen Unternehmen in Schleswig-Holstein die Basis für Wohlstand und Sicherheit im Land.
Die IHK-Organisation (DIHK, IHK Nord und IHK Schleswig-Holstein) hat sich bereits zu möglichen Maßnahmen für den Schutz der Unternehmen vor hohen Energiepreisen und vor den Auswirkungen des Ukraine-Krieges wie zum Beispiel einem Gasversorgungsstopp positioniert. Gleichwohl ist es ein Anliegen der regionalen Wirtschaft, sechs bestimmte Aspekte noch einmal besonders zu betonen.

1. Fahrt bei Genehmigung und Umsetzung aufnehmen

Die regionale Wirtschaft ist bereit für die anstehende Transformation in eine klimagerechte Produktionsweise. Viele der Unternehmen haben bereits längst in Erneuerbare Energien investiert. Für die weitere Beschleunigung ist es unabdingbar, dass auch Planungs- und Genehmigungsverfahren deutlich schneller und viel einfacher werden.
Kurzfristig muss es zudem eine Regelung geben, die einen schnellen Fuel Switch, also den Wechsel von Gas auf andere Brennstoffe, vor dem Hintergrund des Bundesimmissionsschutz-Gesetzes genehmigungsrechtlich möglich macht.
Die anstehende Transformation muss von der Politik durch schnellere und einfachere Planungs- und Genehmigungsverfahren unterstützt und mit finanzieller Förderung für Umrüstungen und Investitionen zur technischen Verbrauchsreduktion bei Gas- und Strombezug flankiert werden. Aktuell werden hier Unternehmen durch den CO2-Deckel im Programm Energieeffizienz in der Wirtschaft ausgebremst. 

2. Gasunabhängige Stromversorgung: Gasverstromung reduzieren, Alternativen am Netz halten, neue Quellen erschließen

Ohne Energieversorgung kann die Wirtschaft nicht funktionieren. Mit den drohenden Engpässen für fossile Energie aus Russland steigt auch das Risiko eines Engpasses in der Stromversorgung. Der Anteil von Erdgas an der Stromerzeugung lag im Jahr 2021 bei 12,6 Prozent.
Daher müssen alle verfügbaren Kraftwerke - unabhängig von beschlossen Ausstiegsszenarien - am Netz bleiben. Das Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz sollte daher so schnell wie möglich in Kraft treten, um ad hoc die Abhängigkeit der Stromversorgung von russischen Gaslieferungen zu reduzieren.

3. Abschaltbare Lasten honorieren - statt zwangsweise Wirtschaft abschalten

Für die Aufrechterhaltung der Produktion müssen oft nicht alle Anlagen parallel und kontinuierlich betrieben werden. Viele Unternehmen haben zur Vermeidung von kostenintensiven Lastspitzen für strom- und gasbetriebene Prozesse bereits abschaltbare Lasten ermittelt und können diese kontrolliert vom Netz nehmen, um beispielsweise die Folgen temporärer Versorgungsengpässe abzufedern. Diese Flexibilität erfordert einen wirtschaftlichen Ausgleich der Einschränkungen im Betrieb.
Eine weitere Möglichkeit der Flexibilisierung bzw. Reduzierung ist die Abstimmung zwischen Gasverbrauchen auf lokaler Ebene, zum Beispiel in einem Gewerbegebiet. Solche Absprachen zur Anpassung der Menge und der Zeiten des Gasverbrauchs werfen aktuell unter anderem noch kartellrechtliche Fragen auf.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass Reduzierungen immer zu einem Ausfall an Wirtschaftsleitung bedeuten und nach Möglichkeit generell vermieden werden sollten.
Die Bundesregierung sollte Regelungen schaffen, die abschaltbare Lasten honorieren und generell Flexibilität sowie netzdienliches Nutzungsverhalten attraktiv machen. Das von der Bundesregierung angedachte Auktionsmodell kann dafür ein Ansatz sein. Flexibilität in der Gasnutzung durch Kooperationen zwischen Unternehmen in einer Quartierslösung sollte durch einen passenden gesetzlichen Rahmen schnellstmöglich erleichtert werden.
Marktmechanismen sollten so lange wie möglich wirken, bevor es zu Zwangsabschaltungen kommt.

4. Erneuerbare Energien in Schleswig-Holstein als Standortvorteil entwickeln

Schleswig-Holstein war schon immer Energieland. Der Ausbau der Erneuerbaren - vor allem der Windkraft - hat die Energiewende im Land vorangebracht. Leider konnten die Unternehmen bisher nicht davon profitieren: Das Land hat die höchsten Netznutzungskosten bundesweit. Gleichzeitig wurde die Eigenversorgung von Unternehmen mit erneuerbaren Energien im letzten Jahrzehnt durch die staatlich induzierten Preisbestandteile bei Strom sowie die hochkomplexen regulatorische Anforderungen massiv behindert.
Die Erneuerbare Energien in Schleswig-Holstein müssen zu einem Standortvorteil für die hier ansässigen Unternehmen entwickelt werden.

5. Ohne Industrie läuft nichts

Die letzten beiden Jahre haben gezeigt, wie leicht unser wirtschaftliches System aus dem Gleichgewicht zu bringen ist. Die produzierenden Unternehmen haben trotz der Störungen der Lieferketten zwar unsere Versorgung sichergestellt und durch die umfassenden Kurzarbeiterregelungen konnten auch viele der Arbeitsplätze erhalten werden. Aber noch sind nicht alle wirtschaftlichen Schäden beseitigt, die Lieferketten sind fragiler denn je. Ein Gaslieferstopp und damit die komplette Schließung ganzer Branchen ist zum jetzigen Zeitpunkt eine massive existenzielle Bedrohung für den Bestand der Unternehmen und muss verhindert werden.
Diese Zusammenhänge müssen der Öffentlichkeit stärker verständlich gemacht werden auch von Seiten der Politik.
Auch wenn die Gasspeicher aktuell noch weiter befüllt werden können – die reduzierten Gasflüsse machen noch einmal deutlich, wie ernst und dringlich die Lage ist.
Alle sind aufgerufen jetzt, sofort und auch im „Kleinen“ Energie zu sparen, damit wir in die Wintersaison mit gefüllten Speichern gehen können und damit die Energieversorgungssicherheit des Landes stärken.

6. Nationale CO2-Abgabe abschaffen oder europäisieren

Die am 01.01.2021 eingeführte CO2-Abgabe, die aktuell 30 Euro pro Tonne CO2 beträgt, sollte durch die Verteuerung der fossilen Energieträger im Wärme- und Verkehrsbereich die Transformation hin zur Klimaneutralität unterstützen und den Wettbewerbsnachteil gegenüber den europäischen Nachbarn reduzieren. Die aktuellen Energiepreise lassen dies Makulatur werden: Sie sind so hoch, dass Energieeffizienz, Sparsamkeit und die Umstellung auf Versorgung mit erneuerbaren Energien pure Notwendigkeit sind. Die CO2-Bepreisung entfacht somit keine Steuerungswirkung mehr, ist aber nach wie vor ein Wettbewerbsnachteil gegenüber unseren europäischen Nachbarn. Auf europäischer Ebene ist die Ausweitung des CO2-Handelssystem auf alle Sektoren bereits angestoßen.
Daher sollte die CO2-Abgabe (oder zumindest die weitere, bereits geplante Erhöhung) ausgesetzt und schnellstmöglich in ein europäisches Abgabensystem überführt werden
Veröffentlicht am 29. Juni 2022