Der Dorfplatz der Großstadt

Sie gehören zum Ruhrgebiet wie einst Kohle, Stahl und Fußball. Und sie sind Kult: die Trinkhallen im Revier. Seit 2016 erfahren sie eine besondere Würdigung – mit dem „Tag der Trinkhallen“. In diesem Jahr findet das besondere Event zum vierten Mal statt. In diesem Jahr sind schon über 100 angemeldet; vierzig Büdchen bekommen ein offizielles Programm von der Ruhr Tourismus  GmbH gesponsert. Wir haben zwei Buden besucht, die am 17. August mit von der Partie sind.
Von Sven Frohwein (Text und Fotos)
Heike Chuchra sitzt an einem kleinen Tisch im Nebenraum ihres Büdchens. Das Zimmer misst vielleicht sechs bis sieben Quadratmeter, ist Lager- und Aufenthaltsraum zugleich. Der Gasofen sorgt für wohlige Wärme. „Früher wurde hier mit Kohle geheizt“, sagt Chuchra. Heike's Kiosk ist Baujahr 1922 – und steht seit kurzem unter Denkmalschutz. Das kleine Gebäude am Kurt-Edelhagen-Platz im Herner Stadtteil Sodingen ist eine Institution. So wie Heike: Seit über 30 Jahren steht Chuchra hier hinter der Ladentheke, vor 24 Jahren übernahm sie den Kiosk und bewirtschaftet ihn seitdem in Eigenregie, hat sogar vier Angestellte. „Allein schaffst du das nicht“, sagt die 62-Jährige. Heike's Kiosk hat von 6 bis 20 Uhr geöffnet, im Sommer sogar bis 21.30 Uhr. Chuchra hat ihr gesamtes Berufsleben in Büdchen verbracht. „Ich mache das so lange, bis ich nicht mehr kann.“
Die Zigaretten gehen immer noch am besten. Dann kommen die Süßigkeiten.
Eine Kundin kommt strammen Schrittes auf den Kiosk zu. „Hallo, zwei West bitte.“ Heike weiß: „Die Zigaretten gehen immer noch am besten. Dann kommen die Süßigkeiten. ­Bunte Tüte für fünf bis zehn Euro. Manche freuen sich, wenn noch eine Leckmuschel sehen.“ Und Heikes Angestellte Rosi ergänzt: „Dann kommen schon die Getränke.“ Sie ist schon seit elf Jahren an Heike Chuchras Seitae.
Heike’s Kiosk hat viele Stammkund:innen. „Hey, ich wollte der Urlauberin nur kurz hallo sagen. Machst Du mir einen Kaffee, ich muss auf gleich wieder auf die Arbeit“, sagt ein älterer Herr zu Rosi, die gerade frisch aus dem Urlaub zurück ist, und nimmt sie in den Arm. Heike Chuchra muss schmunzeln: „Arbeit? Der ist schon seit Langem in Rente. Macht aber noch viel ehrenamtlich. Der kann einfach nicht anders.“
Trinkhalle03
Heike Chuchra betreibt den Kiosk seit über 20 Jahren in Eigenregie. „Ich mache das so lange, bis ich nicht mehr kann.“
Und der Tag der Trinkhallen? „Beim letzten Mal haben wir einfach so mitgemacht. Den ganzen Tag über kamen Radfahrer, machten hier Pause. Das waren bestimmt über 100 Leute, die den Weg zu uns gefunden haben.“ Diesmal hat sich Heike Chuchra offiziell beworben. „Hat meine Tochter gemacht“, sagt die Kiosk-Betreiberin. Ob sie den Zuschlag für ein gesponsertes Kulturprogramm bekommen hat, wird erst Mitte Mai bekanntgegeben. Insgesamt 40 Büdchen im Ruhrgebiet kommen in den Genuss des Sponsorings. Am 4. Juli wird das Programm offiziell vorgestellt.
„Der Tag soll dazu dienen, die Kioskkultur des Ruhrgebiets zu feiern und die Trinkhallen für einen Tag in den Fokus zu ­rücken“, sagt Michelle Baumgardt vom Organisationsteam der Ruhr Tourismus GmbH. „Die Trinkhallen gelten als Dorfplätze der Großstadt. Hier treffen sich Menschen jedes Alters und verweilen gerne auch länger auf einen Schnack.“
Das Gespräch gehört einfach dazu. Das weiß auch Mama Wulfmeyer. Heute ist sie für ihren Sohn eingesprungen. „Der besucht für ein paar Tage einen Freund in Istanbul. Klar helfe ich dann aus.“ Timo Wulfmeyers Büdchen ist der All in Kiosk im Bochumer Ehrenfeld. Das Ladenlokal auf der Ecke ist ein Fantempel des VfL Bochum. Überall hängen Schals und andere Devotionalien des Fußball-Bundesligisten. „Als unser Sohn uns anrief und sagte, er habe einen Kiosk gekauft, wollten wir es erst nicht glauben und es ihm ausreden. Das war hier damals eine dunkle Kaschemme.“ Sohn Timo ließ sich aber nicht beirren und brachte das kleine Ladenlokal auf Vordermann. Mittlerweile ist die Bude an der Joachimstraße wieder eine feste Größe im Viertel.
Trinkhalle02
Karin Wulfmeyer ist für ihren Sohn eingesprungen und hält die Stellung im Kiosk: „Mittlerweile ist das ein richtiger Familienbetrieb.“
Ein kleiner Junge kommt mit seiner Mutter in den Laden, kann sich aber bei der Vielzahl Süßigkeiten nicht ­entscheiden. „„Guck du in Ruhe, was du möchtest. Wir haben bis heute Abend um 22 Uhr Zeit“, sagt ­Karin Wulfmeyer. Dauert aber dann doch nicht so lang. Der Kleine zieht mit einer gemischten Tüte grinsend ab. Süßigkeiten gehen immer, auch hier in Bochum. Die Tüte Chips gibt’s für drei Euro, die ­Tafel Schoki kostet zwei, die Bauchtasche mit Bochumer Stadtwappen und 1848-Aufdruck 20 Euro. Und in den großen Kühlschränken warten kühle ­Getränke. Zwischendurch geht immer wieder die Tür auf. ­Tabak, Süßigkeiten, Pakete. Und immer wieder ein kleiner Plausch. „Haben Sie Krombacher auch in Dosen?“ Da muss Wulfmeyer allerdings passen. „Jeden Kundenwunsch können wir eben nicht erfüllen.“
Schauen Sie mal, was hier vor zwei Jahren los war. Hier war alles abgesperrt, die Straße voll mit Leuten.
Als die Kundin den Laden verlässt, zückt sie das Handy. „Schauen Sie mal, was hier vor zwei Jahren los war. Hier war alles abgesperrt, die Straße voll mit Leuten“, sagt Wulfmeyer und zeigt Bilder vom letzten „Tag der Trinkhallen“. „Deshalb machen wir auch in diesem Jahr wieder mit. „Auch wenn wir kein offizielles Programm gesponsert bekommen.“ Die Wulfmeyers wollen grillen, es gibt Fiege vom Fass und vielleicht auch wieder Kinderschminken - und eine Tombola. Hauptgewinn: ein aktuelles VfL-­Trikot, das ist ja wohl Ehrensache. Aber davor geht’s für Mama Karin und Papa Ralf Wulfmeyer erstmal in den Urlaub. „Da freue ich mich schon die ganze Zeit drauf. Wir sind leidenschaftliche Camper.“ Und Sohn Timo? Plant schon seinen nächsten Coup. „Er wird den Kiosk in der Heinrich-Böll-Gesamtschule übernehmen. Kiosk ist einfach seine Leidenschaft.“

Mehr Infos zum Tag der Trinkhallen gibt’s auf: www.tagdertrinkhallen.ruhr